Soziale Ungleichheit und ökonomische Unsicherheit in Krisenzeiten
(Über-)Leben in Indonesien in Zeiten von Corona
Indonesien ist – wie fast alle Länder in diesen Tagen – im Ausnahmezustand. Es durchlebt die dramatischste Krise seit der Asienkrise 1997/98. Inmitten der Corona-Krise kämpfen derzeit Millionen unter und an der Armutsgrenze lebende Menschen mit den wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie.
von Gunnar Stange
Nahrungsmittelverteilung in Pasar Kembang, Yogyakarta; Bildquelle: zur Verfügung gestellt von Gunnar Stange
Seit den ersten COVID-19-Diagnosen in Indonesien sind zwei Monate vergangen. In Südostasien meldet nur Singapur höhere Infektionszahlen. Die meisten an COVID-19 Verstorbenen in der Region zählt Indonesien. Am 15. Mai 2020 waren nach offiziellen Angaben 16.006 Menschen in Indonesien infiziert und 1.043 am Corona-Virus verstorben. Unabhängige Untersuchungen gehen sogar von mehr als 2.200 Todesopfern aus. Jakarta ist das Zentrum der Epidemie. Dort wurden bis zum 15. Mai 5.688 Menschen positiv auf COVID-19 getestet und 452 waren an dem Virus verstorben. Allerdings ist das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe wohl noch dramatischer, als diese Zahlen ohnehin nahelegen. So errechnete die New York Times im Rahmen einer Analyse der weltweiten Übersterblichkeit für Jakarta 3.200 mehr Tote im März und April 2020 als im Mittel dieser Monate in den vorangegangenen Jahren. In Indonesien wurden bisher lediglich etwas mehr 60.000 Corona-Tests durchgeführt. Die Dunkelziffer der Infizierten und aufgrund von COVID-19 Verstorbenen ist also vermutlich sehr viel höher.
Mittlerweile wurden in 34 Provinzen und 249 Distrikten beziehungsweise Städten regionale Krisenstäbe zur Bewältigung der Epidemie eingerichtet. Die Zentralregierung hat die Nutzung von See-, Überland- und Lufttransportmitteln, einschließlich kommerzieller Flüge, für alle internationalen und inländischen Routen vom 24. April bis 31. Mai weitgehend untersagt. Internationale Einreisen nach Indonesien aus Ländern mit sehr hohen Infektionszahlen sind derzeit nicht möglich. Für die Einreise aus anderen Ländern gilt eine verpflichtende zweiwöchige private Selbstisolation nach der Einreise. Die Mobilitätseinschränkungen innerhalb Indonesiens wurden verhängt, um die Ausbreitung des Corona-Virus während des alljährlichen mudik, der Familienheimreise am Ende des Ramadans (23./ 24. Mai 2020), zu verhindern. Normalerweise machen sich in dieser Zeit allein aus dem Ballungsraum Jakarta Millionen Menschen auf den Weg zu ihren Familien. Die indonesische Regierung hofft, mit diesen Maßnahmen die Epidemie noch im Laufe des Monats Juni unter Kontrolle bringen zu können. Neben dem Transportverbot haben mehrere Regionen (Jakarta und Westsumatra sowie 22 Distrikte/ Städte) umfassende soziale Restriktionen (Pembatasan Sosial Berskala Besar, PSBB) in Form von Ausgangsbeschränkungen angeordnet, die bei Nichteinhaltung mit Gefängnisstrafen geahndet werden können. Einige dieser Regionen werden die PSBB-Bestimmungen in naher Zukunft wahrscheinlich noch strenger durchsetzen, da es insbesondere während des traditionellen Fastenbrechens im derzeitigen Ramadan nach wie vor zu großen Menschenansammlungen kommt.
Bis heute gibt es in Indonesien 668 Referenzkrankenhäuser für COVID-19-Patienten. Das Land beginnt gerade mit der Herstellung von Beatmungsgeräten und hofft, dass bald 500 der Geräte pro Woche produziert werden können. Auch technische Innovationen werden im Kampf gegen das Corona-Virus vermeldet. Wissenschaftler*innen der Universitas Indonesia in Jakarta haben beispielsweise eine auf ultraviolettem Licht basierende Desinfektionsbox für medizinisches Gerät entwickelt. Nichtsdestotrotz ist Indonesien in Bezug auf einen drohenden Zusammenbruch seines Gesundheitssystems wesentlich schlechter aufgestellt als viele Länder des Globalen Nordens. Während beispielsweise in Deutschland etwa sechs Krankenhausbetten für 1.000 Einwohner zur Verfügung stehen, sind es in Indonesien lediglich 1,2. Gesundheitsexperten gehen davon aus, dass eine adäquate Gesundheitsversorgung der Bevölkerung auch in nicht-epidemischen Zeiten erst ab 2 Betten pro 1000 Einwohner gewährleistet werden kann.
Leere auf der Jalan Malioboro in Yogyakarta; Bildquelle: zur Verfügung gestellt von Gunnar Stange
Die Auswirkungen der Corona-Krise auf die arme und marginalisierte Bevölkerung
Etwa zehn Prozent der mehr als 260 Millionen Einwohner Indonesien leben laut offiziellen Angaben unter der mit 1,25 US-Dollar Tageseinkommen definierten Armutsgrenze. Internationale Organisationen schätzen jedoch, dass fast 100 Millionen Indonesier*innen mit weniger als 1,9 US-Dollar am Tag – der internationalen Armutsgrenze – auskommen müssen. Sie sind in diesen Zeiten massiver Einschränkungen des öffentlichen Lebens aufgrund fehlender Einkommensmöglichkeiten existentiell bedroht. Zusätzlich könnte die aktuelle Krise Millionen von Familien, deren Einkommen nur knapp über der Armutsgrenze liegt, in die Armut treiben. Ähnlich wie auch schon in der Asienkrise 1997/98 ergeht es der armen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten aufgrund besserer Möglichkeiten der Selbstversorgung vermutlich etwas besser. Allerdings leben etwa 60 Prozent der Indonesier*innen in Städten und sind damit auf monetäres Einkommen angewiesen. Viele von ihnen verdienen ihr Geld täglich in Wirtschaftssektoren, die besonders stark von den sozialen Beschränkungen betroffen sind, wie etwa der Personentransport oder im Straßenverkauf. Wer Indonesien einmal besucht hat, weiß wie sehr beispielsweise Motorradtaxis und kleine Garküchen das öffentliche Leben prägen.
Hinzu kommt, dass arme Bevölkerungsteile angesichts der aktuellen Brotsorgen wesentlich stärker vom Corona-Virus bedroht sind. Wo möglich, haben sie keine andere Wahl als zu arbeiten und sich der Gefahr einer Infektion auszusetzen. Wardah Hafidz von der wichtigen Nichtregierungsorganisation Urban Poor Consortium, die sich um die Belange der städtischen Armen kümmert, sagte in einem Interview mit der South China Morning Post am 15. März 2020: »Solange sie sich stark genug fühlen, werden die Armen auch wenn sie krank sind weiterarbeiten, um zu überleben.« Außerdem stellt etwa der Kauf von Infektionsschutzmasken eine zusätzliche finanzielle Belastung dar und eine intensivmedizinische Behandlung ist für viele Menschen schlichtweg nicht finanzierbar. Die meisten Armen wenden sich im Falle einer Erkrankung an kleine Polikliniken beziehungsweise Gesundheitszentren (Pusat Kesehatan Masyarakat, PuskesMas), in denen sie kostenfreie medizinische Versorgung erhalten. In den meisten Fällen können dort allerdings weder Tests durchgeführt noch Menschen intensivmedizinisch betreut werden.
Insbesondere in Städten mit starken sozialen Beschränkungen werden von Regierungsstellen nun Grundnahrungsmittel an die arme Bevölkerung ausgegeben. Die Provinzregierung Jakartas verteilt beispielsweise alle drei Wochen Nahrungsmittelhilfen an bedürftige Familien. Diese reichen jedoch gerade einmal für eine Woche. Wie auch sonst setzt die indonesische Regierung in dieser Situation darauf, dass die Bevölkerung sich auf informellem Wege und unterstützt von zivilgesellschaftlichen und religiösen Organisationen irgendwie durch diese Krise rettet.
Und tatsächlich gibt es in fast keinem Land der Welt eine größere zivilgesellschaftliche Solidarisierung als in Indonesiens. Im Legatum Prosperity Index des Jahres 2019 belegte Indonesien den fünften Platz im Bereich Sozialkapital und den ersten Platz im Bereich sozialer und zivilgesellschaftlicher Beteiligung. Indonesien hat die höchste Beteiligungsrate an Freiwilligenarbeit weltweit. Im 2018er Charities Aid Foundation (CAF) World Giving Index belegte Indonesien den ersten Platz für regelmäßige Spenden und Freiwilligenarbeit. Auch in diesen Tagen ist das landesweite Engagement beeindruckend. Auf Online-Spenden-Plattformen wie kitabisa.com engagieren sich bereits zehntausende Menschen. Allein im medizinischen Bereich haben sich 15.000 Medizinstudent*innen von 158 Universitäten für Freiwilligenarbeit gemeldet.
Die Volksküche in Pasar Kembang, Yogyakarta; Bildquelle: zur Verfügung gestellt von Gunnar Stange |
Dichtes Gedränge in Pasar Kembang, Yogyakarta; Bildquelle: zur Verfügung gestellt von Gunnar Stange |
Zivilgesellschaftliche Solidarität in Yogyakarta
Am 31. März 2020 erhielt ich eine WhatsApp-Nachricht von einer alten Bekannten aus Yogyakarta. Wir hatten uns zu Beginn des Jahres 2019 nach 15 Jahren auf einem Kleinkunstfestival in Pasar Kembang in Yogyakarta wiedergetroffen. Seitdem sind wir lose in Kontakt. In Ihrer Nachricht bat sie mich – und zwischen den Zeilen wurde klar, wie unangenehm ihr die Bitte war – um etwas Geld für die Miete ihres 24-Quadratmeterhauses. Dort lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern. Sie schrieb, dass das Geld für Essen gerade noch reiche, aber der plötzliche Einkommensverlust durch das Ausbleiben von Touristen sie an den Rand ihrer Existenz gebracht habe. Sie ist seit zwei Jahrzehnten in der Kunsthandwerkszene der Stadt aktiv. Ihr Mann verkauft Kunsthandwerksprodukte auf der Jalan Malioboro, dem touristischen Konsumherzen Yogyakartas.
So wie ihr und ihrer Familie ergeht es derzeit Zehntausenden in Yogyakarta. Die Stadt ist als kulturelles Zentrum Indonesiens in besonderem Maße vom Tourismus abhängig. Jährlich kommen circa sechs Millionen einheimische und vierhunderttausend internationale Touristen in die Stadt. Sie sind eine der wesentlichen Einnahmequellen für die Bevölkerung. Ihr Kommen entscheidet zu einem großen Teil darüber, wieviel Geld den Menschen in Yogyakarta zur Verfügung steht. Seit Ende März ist diese Quelle nahezu versiegt. Yogyakarta ist, wie viele Regionen in Indonesien, weitgehend vom Mobilitätsnetz abgeschnitten. Die Bahn hat ihren Betrieb eingestellt, die großen Schnellstraßen sind teilweise gesperrt und Inlandsflüge vorerst ausgesetzt. Die Mehrzahl der Hotels und vor allem mittlere und kleine Geschäfte sind geschlossen.
In Yogyakarta gelten zwar keine so strikten Einschränkungen des öffentlichen Lebens wie in Jakarta. Auch die offiziellen Infektions- und Sterbezahlen sind verglichen mit der Hauptstadt des Landes sehr gering. Dennoch haben die Behörden auch hier empfohlen, soweit wie möglich auf soziale Aktivitäten zu verzichten und von Hause zu arbeiten. Allerdings ist das für all die Menschen, die buchstäblich von der Hand in den Mund leben und ihr Auskommen täglich in den Straßen Yogyakartas sichern müssen, schlichtweg unmöglich. Gleiches gilt für die Ratschläge zur physischen Distanzierung. Mitte April fragte mich ein Freund, der mit seiner Familie in einem kleinen Zweizimmerhaus in einem dicht gedrängten Kampung Yogyakartas lebt, wie denn physische Distanzierung in einem solchen Umfeld möglich sein sollte. Wenn man bedenkt, dass diese Wohnsituation der Lebenswirklichkeit der Mehrzahl der Menschen in Indonesien entspricht, wird schnell klar, dass physische Distanzierung für die meisten Menschen in Indonesien kein gangbarer Weg ist, um die Epidemie zu bewältigen.
Auch in Yogyakarta hat die Lokalregierung bisher bei weitem nicht ausreichend unternommen, um die besonders verwundbaren Menschen in der gegenwärtigen Notlage zu unterstützen. Zwar wurden armen Haushalten die Stromkosten erlassen beziehungsweise halbiert und hier und da Nahrungsmittel ausgegeben, aber der Großteil der Unterstützung erreicht die Menschen derzeit von religiösen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sowie nachbarschaftlichen Initiativen. Auch die Bekannte, von der gerade die Rede war, hat sich nach dem ersten Schock mit einer Gruppe von Freundinnen und Freunden zusammengetan und unterstützt arme Familien mit spendenfinanzierten Nahrungsmitteln. In ihrem Stadtteil kocht die Gruppe jeden Tag etwa 50 Gerichte für Bedürftige, verteilt Nahrungsmittelpakete und Hygieneartikel und unterstützt außerdem im Stadtteil Pasar Kembang eine Volksküche, die täglich etwa 150 Malzeiten ausgibt.
Wie überall in diesen Tagen wirkt die Corona-Krise auch in Indonesien wie ein Brennglas, das gesellschaftliche Ungleichheit aufzeigt und zusätzlich verschärft. 60 bis 70 Prozent der arbeitenden Bevölkerung Indonesiens verdient ihren Lebensunterhalt im informellen Sektor und ist damit entweder gar nicht oder nur teilweise von den staatlichen sozialen Sicherungssystemen erfasst. Dementsprechend hat zivilgesellschaftliches Engagement im sozialen Bereich eine ganz besondere Bedeutung in Indonesien. Das Land hat seine Krisen der vergangenen Jahrzehnte – seien es Natur- oder wirtschaftlich-soziale Katastrophen – auch deshalb so gut meistern können, weil seine Bevölkerung ein exzeptionelles Maß an sozialer Verantwortung auszeichnet. Es bleibt zu hoffen, dass dies auch in dieser Krise Schlimmeres wird verhindern können. Niemand in Indonesien kann hier allein auf die Regierung vertrauen.
Über den Autor | Dr. Gunnar Stange Als wissenschaftlicher Mitarbeiter lehrt und forscht Stange in der Arbeitsgruppe Bevölkerungsgeographie und Demographie am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien. Er arbeitet im Schwerpunkt zu den Themen Konflikttransformation, Migration sowie Flucht und Vertreibung in Südostasien, vor allem in Indonesien und Thailand. Derzeit entwickelt der Wissenschaftler gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen ein Internetportal zu den globalen Auswirkungen von SARS-CoV-2 auf Migrantinnen und Migranten. |
Bilder von oben nach unten: Essenszubereitung in der Volksküche in Pasar Kembang, Yogyakarta und Nahrungsmittelverteilung in Pasar Kembang; Bildquelle: zur Verfügung gestellt von Gunnar Stange