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Leseprobe: Iksaka Banu – Alles für Hindia!

»Die Hand des Ratu Adil«

 

In seinen intensiven Erzählungen über die koloniale Vergangenheit Indonesiens nimmt uns der Autor Iksaka Banu mit in eine komplexe und verwobene Welt aus Fiktion und historischen Realitäten. Lesen Sie aus seinem Kurzgeschichtenband Alles für Hindia! die sehr javanische Episode »Die Hand des Ratu Adil«.

von Iksaka Banu, in der deutschen Übersetzung von Sabine Müller vorgestellt von InMaOn / JH

 

Iksaka Banu im Homeoffice; Quelle: von privat / Iksaka Banu

 

Bevor die eigentliche Leseprobe beginnt, gibt uns die Übersetzerin Sabine Müller einige wissenswerte historische Eckpunkte mit an die Hand. Auch wenn es keiner Kenntnisse der indonesischen Geschichte bedarf, um die lebendig arrangierte Erzählung zu rezipieren, so sind die Eingangsworte dennoch aufschlussreich. 

Der Geschichte »Die Hand des Ratu Adil« sind Gedichtzeilen aus dem Roman Max Havelaar oder die Kaffeeversteigerungen der Niederländischen Handels-Gesellschaft vorangestellt, die der niederländische Autor Edouard Douwes Dekker (1820–1887) unter seinem Pseudonym Multatuli veröffentlichte (hier wiedergegeben nach der Übersetzung von Wilhelm Spohr). Unter dem Namen Multatuli erschienen insbesondere Bücher, in denen sich der Autor, der mit 18 Jahren nach Java kam und unter anderem in der Kolonialverwaltung arbeitete, kritisch mit der niederländischen Kolonialpolitik auseinandersetzte. Max Havelaar ist sein bekanntestes Werk. Den realen Hintergrund der Geschichte bildet der Aufstand von Cilegon am 9. Juli 1888. Die Küstenstadt Cilegon, an der nordwestlichen Spitze Javas in der Provinz Banten gelegen, wurde an jenem Tag Schauplatz blutiger Kämpfe zwischen Bevölkerungsgruppen unter der Führung islamischer Geistlicher und niederländischen Truppen. Eine Reihe von Faktoren, wie willkürliche Maßnahmen der Kolonialregierung, das Gebot, die Lautstärke der Muezzinrufe zu reduzieren, das der in der Geschichte genannte sekulär eingestellte Adlige Patih Penna unter den Geistlichen entsprechend umsetzen sollte, eine Hungersnot infolge von Krankheiten unter Nutztieren und Naturkatastrophen, wie der Ausbruch des Vulkans Krakatau und der folgende Tsunami, führten zur Eskalation des Widerstands und zu einem etwa einmonatigen blutigen Gefecht, das mit der Niederlage der Aufständischen endete. Imam Mahdi oder Ratu Adil (der gerechte König) gilt als Nachfahre des Propheten Mohammad und wird, laut Weissagung, in seiner sieben bis acht Jahre lang währenden Herrschaft im Sinne eines gerechten Islam alle Ungerechtigkeit und das Böse besiegen. 

 

 

 

Die Hand des Ratu Adil

 

.... Da drin auf meiner Matte, schlaf’ ich gleich, und weiß nicht

einmal, was ich träume!

 

Nur allmählich wachte ich auf. Max Havelaar! Ja, das war eine Gedichtzeile aus diesem Buch, das ich, bevor ich nach Cilegon aufbrach, mehr als ein Mal gelesen hatte. Nun kam es mir unvermittelt wieder in den Sinn. Ich überprüfte den Verband an meiner Hüfte. Keinerlei Anzeichen für eine Infektion. Ich war wohl derart angeschlagen, dass ich auf dem Rücken des Pferdes kauernd und dessen Hals umklammernd bis zum Morgen geschlafen haben musste. Ein Glück nur, dass ich nicht auf die Straße gefallen war. Ich straffte die Zügel. Das Tier, soeben noch gemächlich vor sich hin trottend, blieb stehen. Apathisch ließ ich mich auf das mit Tau benetzte Gras fallen. Die Bewegung fügte mir einen Schmerz in der Hüfte zu, als risse mich die Hand eines Riesen in Stücke. Die Wunde klaffte wieder auf. Ich versuchte mich aufzurichten. In meinem Kopf drehte es sich. Vermutlich, weil ich ziemlich viel Blut verloren hatte, vielleicht auch, weil ich seit gestern Abend nichts mehr zu mir genommen hatte. Aber ich konnte es nicht weiter aufschieben. Ich musste nach Serang und über den Vorfall berichten.

Nach und nach erst vermochte ich, meine Erinnerungen zu einem Bild zusammenzufügen: der Alun-alun Cilegon, 9. Juli 1888. Gestern Nachmittag. Schießpulver, Blut, die Hölle! Es grenzte an ein Wunder, dass ich dem sicheren Tod entkommen konnte.

Es hatte alles mit meinem Antrittsbesuch bei meinem ersten Posten in Niederländisch-Indien am gestrigen Nachmittag begonnen: die Polizeistation Sektor III an der Straße Tanjung Kurung, die gleichzeitig als Gefängnis diente. Nach einem kurzen Gespräch mit Dirk Zware Laarzen, der die Leitung der Dienststelle vorübergehend übernommen hatte und mich offiziell vertrat, sah ich mich in den Hafträumen um.

»Salam, Sie sind Herr Ustaz Rakhim?« Ich schaute in die am nächsten liegende Zelle hinein, ein schmaler Raum mit einer runden, vergitterten Luftöffnung an der rückwärtigen Mauerwand. Das durch diese Öffnung dringende Licht der Nachmittagssonne fiel von hinten auf den hageren Mann, der hinter der Gittertür stand, wodurch sich um seinen Kopf, den eine weiße Kopiah bedeckte, eine leuchtende Aura bildete, ähnlich den Heiligenscheindarstellungen auf mittelalterlichen Kirchengemälden. Ein heftiges Scheppern durchbrach die Stille, als der Mann sich der Tür näherte, es stammte von den Ketten an seinen Händen und Füßen. Seine Augen blickten scharf, schneidend. Ich stellte meine Frage noch einmal. Seine dunklen Lippen zwischen Schnauzbart und dichtem Vollbart bewegten sich nicht. Er war es wohl gewohnt, seine Augen sprechen zu lassen. Sein zorniger Blick schien jedoch nicht mir, sondern dem Mann hinter mir zu gelten.

»Namen haben hier keinerlei Bedeutung, Inspektor«, murrte Dirk Zware Laarzen in meinem Rücken. »Er kann Rakhim heißen, Wasid oder Ismail. Eines aber ist klar, er und seine Bande hätten letzten Sonntagnachmittag auf dem Markt beinah Hendrieks Leib aufgeschlitzt. Leider konnte nur er gefasst werden.«

»Und die Gefangenen dort drüben?« Ich ging hinüber zum Wachraum. Von dort aus waren einige weitere Zellen von noch geringerer Größe einzusehen.

»Gewöhnliche Taschendiebe. Die lass’ ich nächste Woche wieder laufen.«

»Heißt das, dieser Mann ist schon seit drei Tagen hier? Er gehört doch einer dieser islamischen Bruderschaften an. Ist denn wirklich diese Kette innerhalb der Zelle notwendig? Und überhaupt, warum ist sein Gesicht grün und blau?«,fragte ich.

»Als ich die Zellentür öffnete, griff er mich an. Ich war gezwungen, meinen Gewehrkolben ein Machtwort sprechen zu lassen. Erst gestern habe ich ihm die Kette angelegt. Stimmt doch, was, Usep?« Mit beiden Händen demonstrierte er das Anlegen der Kette und blickte sich dabei nach einem dunkelhäutigen Wärter um, der im Begriff war, eine für mich bestimmte Tasse heißen Kaffees auf den Tisch zu stellen.

»Sehr wohl, mein Herr«, der mit Usep Angesprochene blickte zuerst Dirk, dann mich an und ging darauf zurück in die Küche.

Ich atmete tief ein. »Einem Mann einer Bruderschaft ist mit Höflichkeit und mit Feinfühligkeit zu begegnen. Jetzt ist er allerdings schon einmal hier. Und es gibt nur zwei Möglichkeiten: Er wird so schnell wie möglich in das Gefängnis des Landkreises verlegt, oder die Bewachung dieses Gebäudes wird verstärkt.« Ich zog eine Zigarre aus meiner Jackentasche und ließ mich dabei auf die im Wachraum stehende Bank fallen.

»Ich habe sämtliches Archivmaterial der Polizei Banten durchgelesen. Die Aufzeichnungen belegen, dass es in dieser Region schon seit jeher immer irgendwo zu blutigen Konflikten gekommen ist.« Ich ließ den Zigarrenrauch aus dem Mundwinkel entweichen. „Das Besondere ist, jeder Konflikt ist von spiritueller Natur. Angefangen bei den Ausschreitungen in Cikandi Udik und Kolelet, der Kasus von Jayakusuma oder die Tragödie von vor zwei Jahren, das Massaker in Ciomas. Nicht nur das Militär war dabei in das Fadenkreuz der Aufständischen geraten, sondern alle in ihren Augen Ungläubige. Die Feinde Allahs.«

»Es traf sich, dass ich im Anschluss an diesen Vorfall daran beteiligt war, die Scherben zusammenzufegen. Man hatte die europäischen Beamten und Gebietsverwalter samt ihren Familien, die bei dem Erntedankfest anwesend waren, in Stücke gehackt.« Dirk trank von seinem Kaffee. »Die Zeitung De Locomotief schrieb darüber. Es hieß, der ganze Wahnsinn hinge mit dem Vulkan Krakatau zusammen. Der gewaltige Ausbruch fünf Jahre zuvor habe eine Riesenwelle ausgelöst, die wiederum etliche Dörfer an der Küste ausgelöscht habe, und es sei die Pest ausgebrochen. Dann gab es die Weissagung über die bevorstehende Ankunft des Imam Mahdi oder Ratu Adil, der, so heißt es einhellig, die Menschen aus der Unterdrückung der Regierung Niederländisch- Indiens befreien würde.«

»Die Menschen sind zu arm, um die positiven Veränderungen zu begreifen.« Ich schüttelte den Kopf. »Wir brauchen einen Wortführer, vielleicht jemanden von hier, der ihnen begreiflich machen kann, was die Regierung in den letzten dreißig Jahren bereits bewirkt hat, es wurden etliche Steuern und sogar das Auspeitschen mit dem Rattanrohr abgeschafft. Und was den katastrophalen Ausbruch des Vulkans Krakatau angeht, haben wir danach etwa keine Maßnahmen ergriffen und Hilfslieferungen mit Lebensmitteln organisiert, Totengräber entsendet und Gesundheitsposten eingerichtet?« Ich biss in das Mundstück der Zigarre und hielt einen Augenblick inne. »Aber den Gewehrkolben gegen einen Menschen einzusetzen, das geht zu weit. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist er ein religiöser Anführer. Denk an die Schüler oder Anhänger dieses Mannes da draußen, wenn sie erfahren, dass ihr Anführer misshandelt wurde.«

 

 


 

Anmerkungen der Redaktion (Ankertext)

Ratu Adil | Seit Jahrhunderten hält sich auf der indonesischen Insel Java ein Brauch »utopischer Prophezeiungen«, der nicht nur gesellschaftspolitische Themen zu kritisieren sucht, sondern auch nach einer idealen (Welt-)Ordnung für die Zukunft strebt. Diese Praxis ist eine bis heute populär gebliebene, beständige Quelle der Inspiration für politischen Wandel geblieben.

 

Der Mythos um den »Ratu Adil« (den gerechten Herrscher) spielt dabei eine zentrale Rolle und steht in Verbindung mit javanisch-volksreligiös geprägten Erlösungshoffnungen. Dieser Volksglaube geht zurück auf das 12. Jahrhundert und eine Prophezeiung (ramalan) des hindu-buddhistischen Königs Jayabaya (auch zu finden Joyoboyo oder Djajabaja), König von Kediri. Er wird als Inkarnation des hinduistischen Gottes Vishnu angesehen, der sich regelmäßig in menschlicher Form manifestieren soll, um die Menschen aus einer unheilvollen Zeit in eine neue, bessere Welt zu führen.

 

Der komplexe und vielschichtige Charakter des »Ratu Adil« gilt in der javanischen Bevölkerung als jener messianische Führer, unter dessen Leitung das wartende Volk aus Chaos und Unterdrückung erlöst wird, bis zur Herstellung einer gerechteren und prosperierenden Gesellschaftsordnung ohne Unterdrückung, politische Unsicherheit, Armut, Hunger und moralischem Werteverfall.

 

Aus dieser Erwartungshaltung entstanden im Laufe der indonesischen (Kolonial-)geschichte verschiedene Strömungen dieser mythischen Tradition, die in sich hinduistische, buddhistische, mystische und islamisch-schiitische, Elemente vereinten.

 

Häufig fand eine Verschmelzung verschiedener religiös-kulturell-philosophischer Anschauungen statt. Diese Entwicklungen wurden gerade auch durch die Ausbreitung des Islam auf Java gestützt und weitergetragen. Neben den sog. »Ratu-Adil-Bewegungen« und anderen »Interpretationen« gab es auch Formen messianischer Bewegungen im Islam, wie z.B. den Mahdismus (Iman Mahdi-Bewegung).

Alle verbindet der Glaube und das Warten auf die Ankunft einer »Erscheinung« – den Erlöser bzw. Propheten –, in der Lage die Probleme dieser Nation zu beantworten. In der Literatur werden daher die Bezeichnungen »Ratu Adil« und »Imam Mahdi« oft im gleichen Atemzug verwendet, für ein und dieselbe Sache.

Das »Ratu Adil«-Thema ist ein beliebtes und sehr häufig verwendetes Motiv in der indonesischen Geschichtsschreibung. Es taucht in zahlreichen Studien über javanische Protestbewegungen / antikoloniale Strömungen auf und vor allem auch im Zusammenhang mit Berühmtheiten der indonesischen Historie.

 

Einer dieser vergangenen Helden, dem das Attribut eines kommenden »Ratu Adil« oder »Imam Mahdi« zugeschrieben wurde, war Prinz Diponegoro (1785 bis 1855). Tief in der javanischen Mystik verwurzelt wandte er sich gegen die Fremdherrschaft der Niederländer aber auch gegen politisches und moralisches Fehlverhalten der javanischen Oberschicht (...).

 

Einige Quellen zu diesem Thema:

Sindhunata, Gabriel P. Hoffen auf den Ratu-Adil Das eschatologische Motiv des »Gerechten Königs« im Bauernprotest auf Java während des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hamburg: Verlag Kovac, 1992.

Carey, Peter. The Power of Prophecy: Prince Dipanagara and the End of an Old Order in Java, 1785-1855. Leiden: Brill, 2007.

Dahm, Bernhard. Sukarnos Kampf um Indonesiens Unabhängigkeit: Werdegang und Ideen eines asiatischen Nationalisten. Band XVIII der Schriften des Instituts für Asienkunde in Hamburg, Berlin / Frankfurt am Main: Alfred Metzner Verlag, 1966.

Wahid, Abdurahman (Gus Dur), Mahdiisme dan Protes Sosial, in: Prisma No.1, Januari, 1977. => auch in der Onlineausgabe von Republika

Reuter, Thomas. A. The Once and Future King: Utopianism as Political Practice in Indonesia, in: Utopia: 500 Years (S. 293-315): Ediciones Universidad Cooperativa de Columbia Press, 2016

 

Seite 2 / oben weiterlesen  

»Mijn God!« Unvermittelt schlug Dirk mit der flachen Hand auf den Tisch, so dass Usep, der in meiner Nähe stand, zusammenzuckte. »Sie haben doch lange Dienst in Aceh getan, Inspektor. Dort wo die echten Kerle gefragt sind. Ich hatte gehofft, mit Ihrer Ankunft würde sich hier einiges ändern. Sie gehören doch nicht etwa zum verlängerten Arm dieser liberalen Bürokraten in Batavia, die sich durch die Ammenmärchen eines Multatuli oder von wem auch immer einlullen lassen. Offen gestanden lassen uns die Männer, die dort auf ihren Ratsstühlen hocken, und das Geschwätz von der Menschlichkeit hier nunmehr als planlose und schwache Herren dastehen. In Ciomas wurde die vierjährige Tochter von Mijnheer Jansen erstochen und dann zusammen mit ihrem älteren Bruder aufgehängt. Als ich dort ankam, waren die Gesichter der Kinder bereits aufgedunsen und schwarz angelaufen, Fliegen bedeckten sie wie Rosinen auf der Erdbeermarmelade. Aber von uns verlangt man, sich zu beherrschen.« Ein weiteres Mal schlug Dirk auf den Tisch. »Ehrlich gesagt, war es nicht nur der Gewehrkolben. Am liebsten wäre mir, man würde diesem Gefangenen dort geradewegs in den Kopf schießen.“ Dirk rief den letzten Satz absichtlich auf Malaiisch aus.

»Kafir!« Wie ich es geahnt hatte, folgte sogleich ein kräftiger Fluch aus der Zelle. Dirk sprang auf die Geräuschquelle zu.

»Oh, dich stört wohl meine Stimme. »Kafir« sagst du, was? Ich sei ein Gottloser, so was meinst du wohl damit, was?« Dirk griff nach einem Speer, der in einer Ecke des Raumes an der Wand lehnte. »Und ihr, die ihr die Kehlen von Frauen und Kinder durchschneidet, meint, ihr wärt gottesfürchtig? Lass mich dir zeigen, was ein Gottloser ist!«

Dirk hieb den Speer immer wieder gegen die Gitterstäbe der Zelle und schrie dabei als habe er den Verstand verloren.

»Es reicht, Polizeihauptwachtmeister Dirk!“, schrie ich ihn an. Dirk wandte sich zu mir um. Sein Atem bewegte seine Brust heftig auf und ab. Sein Gesicht glühte rot wie das eines Teufels. Er ließ den Speer fallen, dann nahm er einen Flachmann Whisky aus seiner Hosentasche. Er setzte mehrmals an und trank, dabei wedelte er mit der Hand, um die Gruppe von Polizeiangestellten zu vertreiben, die sich aufgrund des Tumults um uns versammelt hatten.

»Auf meinem Heimweg möchte ich mir einen Eindruck von Cilegon bei Einbruch der Nacht verschaffen. Dabei werde ich auch die wichtigen Gebäude vor Ort kennenlernen.« Ich nahm meinen Hut und die Pistole, dabei tat ich so, als sei ich von Dirks Wutanfall völlig unbeeindruckt geblieben. »Morgen werde ich den Sekretär des Residenten und den Staatsanwalt treffen, wir werden über die Verlegung des Gefangenen sprechen.«

»Meines Erachtens besteht kein Anlass, der Verlegung nicht zuzustimmen. Nun, Polizeiagent Jaap erwartet dich draußen. Er wird dich bei deinem abendlichen Spazierritt führen.« Dirk, der sich wieder beruhigt zu haben schien, öffnete mir die Tür.

»Das wird nicht nötig sein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht lange unterwegs sein.«

»Nun gut«, Dirk hob die Schultern.

Um Punkt 19:00 Uhr stieg ich auf mein Pferd und galoppierte in die Stadt. Die Gaslaternen um den Alun-alun erlaubten mir, mich zu orientieren. Obwohl etliche der Essstände noch geöffnet waren, wirkte die gesamte Atmosphäre beinah wie ausgestorben. Nach der Beschreibung von Polizeiagent Jaap lag das Haus des Sekretärs des Residenten Gubbels nördlich des Alun-alun, auf der gleichen Seite des Platzes wie das Postgebäude und das Haus des Stellvertretenden Kontrolleurs van Rinsum. Dort befand sich mein Ziel, und eigentlich hätte ich lediglich gleich nach rechts abbiegen müssen, am Haus des Staatsanwaltes und des Steueramtsgehilfen vorbei, bevor ich dann am Ende des Platzes wieder auf den Weg nach links abgebogen wäre. Doch auf der Straße dorthin reihte sich ein Schlammpfuhl an den anderen. Ich entschloss mich, den Platz zu umgehen und am Sitz des Landrats und am Gefängnis des Landkreises vorbeizureiten, dessen Besuch ich ebenfalls für den morgigen Tag vorgesehen hatte. Ich war bereits vor der Moschee angelangt und im Begriff, das Pferd den Weg nach rechts einschlagen zu lassen, als aus südlicher Richtung her ein ohrenbetäubender Lärm zu hören war. Mir blieb völlig verborgen, was sich abspielte. Plötzlich aber lief eine große Zahl von Menschen mit Fackeln in den Händen schreiend umher. Die Betreiber der Essstände kamen herbeigerannt, brachten ihre Waren in Sicherheit. Von mehreren Dächern loderten glutrote Flammen, Feuer hatten die Häuser ergriffen. Immer wieder fielen Gewehrschüsse, gefolgt von markerschütternden Schreien.

Ich griff nach meinem Fernglas. Eine große Menschenmenge, angeführt von mehreren weißgekleideten Gestalten, drangen mit Speeren und Macheten in die Häuser der Beamten ein, darunter auch in das des Patih Penna. Sie zerrten die Bewohner aus ihren Häusern und stießen jede Art von Waffen, die sie mit sich führten, in deren Leiber. Aus der hinter der Moschee gelegenen Richtung traten über hundert weitere Menschen ins Blickfeld, die nun ebenfalls zum Angriffstürmten. Sie waren offenbar über die enge Straße gekommen, die das Dorf Seneja und dieses Wohnviertel der Oberschicht miteinander verband.

Einer der Männer aus dieser Menge näherte sich mir. Ich zog meinen Revolver. Der Mann schreckte zurück, nicht aber ohne dabei die Spitze seines Speeres in meine Seite zu stoßen. Seine Mitstreiter forderten, die Macheten in Stellung zu bringen. Ohne Zweifel, es ging um Leben und Tod. Ob sich hier die Tragödie von Ciomas wiederholte? Ich gab meinem Pferd die Sporen, lenkte es zurück an den Ort, von dem ich gekommen war, diesmal über die morastige Straße. Zwei weitere Male feuerte ich den Revolver ab, bevor ich an der Polizeidienststelle ankam. Das Gebäude jedoch glich nunmehr einem Flammenmeer. Einige der Polizeibeamten lagen leblos im Hof. An der Vordertür entdeckte ich Dirk, er war aufgehängt worden. Seine Zunge hing heraus. Ein Krummmesser steckte in seiner linken Brust, wie das Horn eines Rhinozeros.

»Steck deinen Revolver weg und geh, solange du es noch kannst, Herr. Die Hand des Ratu Adil hat sich bereits auf diese Stadt gelegt.« Eine mir bekannte Stimme erklang, begleitet von dem Geräusch beim Durchladen eines Gewehres.

»Usep?« Ich runzelte die Stirn, als ich den Wärter erkannte, der mir noch am Nachmittag höflich einen Kaffee gebracht hatte und nun angriffslustig vor mir stand und eine Mauser auf mich gerichtet hielt. Hinter ihm der Gefangene mit der weißen Kopiah. Die Kette an seinen Händen war verschwunden, an ihrer Stelle hielten diese nun eine Machete.

Usep warf mir eine Provianttasche zu, und dann, ohne ein weiteres Wort zu sagen, schlug er auf den Schenkel meines Pferdes, das sofort davon preschte, diesen Ort schleunigst zu verlassen.

Jakarta, Anfang Februar 2014

 

 * * * 

 

 

 

Alles für Hindia!

Erzählungen von Iksaka Banu. Aus dem Indonesischen übersetzt von Sabine Müller

 

Erschienen in der Reihe Phönixfeder 50, OSTASIEN Verlag, Paperback (21,5 x 12,5 cm), xiv + 180 Seiten, 2020. € 19,80, ISBN-13: 978-3-946114-59-8 

 

 

 

Iksaka Banu, 2019; Quelle von privat / Iksaka Banu

 

Iksaka Banu, geboren 1964 in Yogyakarta, interessierte sich bereits im Kindesalter für Geschichte und schrieb erste Erzählungen. Er studierte Graphik-Design in Bandung, ITB, und arbeitete viele Jahre freiberuflich in der Werbung. Nach längerer Schreibpause begann er erst um das Jahr 2000 erneut damit, Kurzgeschichten zu schreiben. Einige davon wurden in Zeitschriften wie Femina, Horison oder Tempo veröffentlicht. Die beiden Erzählungen Rose in der Tigergracht und Alles für Hindia! erhielten 2008 und 2009 den Pena Kencana-Literaturpreis. 2014 erhielt der Kurzgeschichtenband Semua untuk Hindia – wie der vorliegende Band im Original heißt – den Khatulistiwa-Literaturpreis in der Kategorie Prosa.

 

 

Sabine Müller, 2015; Bildquelle: Jörg Huhmann / InMaOn

  Sabine Müller lebt in Köln und arbeitet als freie Übersetzerin für Indonesisch und Englisch. Sie organisiert und koordiniert internationale Kulturprojekte in den Bereichen Übersetzung und Literatur, unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut und der Weltlesebühne. Außerdem ist sie als Redakteurin für verschiedene Online- und Printmedien und als Indonesischdozentin tätig. Sie studierte Ethnologie, Malaiologie und Soziologie an der Universität zu Köln sowie Indonesisch an der Gadjah Mada Universität in Yogyakarta, Indonesien. Von 2002 bis 2006 war sie Leiterin der Deutschabteilung am Politechnikum in Bandung, West-Java. In dieser Zeit realisierte sie auch Kulturprojekte für die Goethe-Institute in Bandung und Jakarta. Zu den von ihr übersetzten Autor:innen gehören neben Iksaka Banu, Leila S. Chudori, Eka Kurniawan, Goenawan Mohamad, Iswadi Pratama, Nirwan Dewanto und Afrizal Malna.

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