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documenta15 – ruangrupa

Künstlerkollektiv ruangrupa übernimmt Leitung der Weltkunstausstellung 

 

Die nächste documenta wird eine »Teamwork-Veranstaltung«. Die Entscheidung der internationalen Kommission war eindeutig. Erstmals übernimmt ein Kollektiv die künstlerische Leitung der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst: die Gruppe ruangrupa aus Jakarta.

InMaOn / JH, documenta

 

ruangrupa, 2019, Reza Afisina, Indra Ameng, Farid Rakun, Daniella Fitria, Praptono, Iswanto Hartono, Ajeng Nurul Aini, Ade Darmawan, Julia Sarisetiati, Mirwan Andan; Foto: Gudskul / Jin Panji

 

 

ruangrupa, ein im Kern zehnköpfiges Kollektiv aus Künstlern und Kreativen aus dem indonesischen Jakarta wurde von der internationalen Findungskommission einstimmig zur Künstlerischen Leitung der documenta 15 ausgewählt.

 

Die gestrige Bekanntgabe hatte etwas Besonderes an sich: Erstmals wird damit eine Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern die Leitung der Weltkunstausstellung kuratieren. Sie findet vom 18. Juni bis 25. September 2022 in Kassel statt.

 

Für die achtköpfige Findungskommission begründeten Elvira Dyangani Ose (Direktorin von The Showroom, London) und Philippe Pirotte (Rektor der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste – Städelschule, und Direktor Portikus, Frankfurt am Main) die einstimmige Wahl wie folgt: »Wir ernennen ruangrupa, weil sie nachweislich in der Lage sind, vielfältige Zielgruppen – auch solche, die über ein reines Kunstpublikum hinausgehen – anzusprechen und lokales Engagement und Beteiligung herauszufordern. Ihr kuratorischer Ansatz fußt auf ein internationales Netzwerk von lokalen Community-basierten Kunstorganisationen. Wir sind gespannt, wie ruangrupa ein konkretes Projekt für und aus Kassel heraus entwickeln wird. In einer Zeit, in der innovative Kraft insbesondere von unabhängigen, gemeinschaftlich agierenden Organisationen ausgeht, erscheint es folgerichtig, diesem kollektiven Ansatz mit der documenta eine Plattform zu bieten.«

 

 

ruangrupa, Asia Pacific Triennale 7, 2012: The Kuda: The Untold Story of Indonesian Underground Music in the 70’s, 2012, verschiedene Materialien und Formate, Foto: ruangrupa

 

ruangrupa kann aus dem Indonesischen mit »Raum der Kunst«, oder auch »Raum-Form« übersetzt werden. Ein Spannungsfeld, indem sich der zentrale kuratorische Ansatz des Kollektivs bereits andeutet. Farid Rakun und Ade Darmawan, die ruangrupa in Kassel vertraten, formulieren ihren dezidiert partizipativen kuratorischen Anspruch für die Weltkunstausstellung 2022: »Wir wollen eine global ausgerichtete, kooperative und interdisziplinäre Kunst- und Kulturplattform schaffen, die über die 100 Tage der documenta 15 hinaus wirksam bleibt. Unser kuratorischer Ansatz zielt auf ein anders geartetes, gemeinschaftlich ausgerichtetes Modell der Ressourcennutzung – ökonomisch, aber auch im Hinblick auf Ideen, Wissen, Programme und Innovationen. Wenn die documenta 1955 antrat, um Wunden des Krieges zu heilen, warum sollten wir nicht versuchen, mit der documenta 15 das Augenmerk auf heutige Verletzungen zu richten. Insbesondere solche, die ihren Ausgang im Kolonialismus, im Kapitalismus oder in patriarchalen Strukturen haben. Diesen möchten wir partnerschaftliche Modelle gegenüberstellen, die eine andere Sicht auf die Welt ermöglichen.«

 

ruangrupa, 31. São Paulo Biennale (2014): RURU, ab 2000, verschiedene Materialien und Formate; Foto: ruangrupa

 

 

Das Kollektiv gründete sich im Jahr 2000 in Jakarta. ruangrupa betreibt einen Kunstraum im Süden Jakartas und realisiert Ausstellungen, Festivals, Publikationen und Rundfunkformate.

 

Die Künstlergemeinschaft hat bereits an vielen Kooperations- und Ausstellungsprojekten teilgenommen, darunter an Ausstellungen wie der Gwangju Biennale (2002 und 2018), der Istanbul Biennale (2005), der Asia Pacific Triennial of Contemporary Art (Brisbane, 2012), der Singapore Biennale (2011), der São Paulo Biennale (2014), der Aichi Triennale (Nagoya, 2016) und Cosmopolis im Centre Pompidou (Paris, 2017). Im Jahr 2016 kuratierte ruangrupa TRANSaction: Sonsbeek 2016 in Arnheim, Niederlande. Im Jahr 2018 gründeten die Akteure GUDSKUL, ein Bildungs- und Vernetzungsprojekt für Kreative, das auf kooperativer Arbeit basiert. Bei der documenta 14 war ruangrupa mit ihrem Internetradio als Partner des dezentralen Radioprojekts »Every Time a Ear di Soun« beteiligt, das vom 8. April bis zum 17. September 2017 acht Radiosender weltweit vernetzte.

 

ruangrupa ist eine gemeinnützige Organisation. Mindestens ein Mitglied der Organisation wird für die Vorbereitung der documenta 15 seinen Lebensmittelpunkt nach Kassel verlegen.

 

Die Hessische Staatsministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn, beglückwünschte die Findungskommission zur Wahl des indonesischen Künstlerkollektivs für die künstlerische Leitung und betonte die besondere Bedeutung dieses Schrittes: »Die documenta gibt damit bewusst den außereuropäischen Blick auf die Kunstwelt Raum und bringt auf ganz neue Art die Welt nach Hessen. ruangrupa nutzt Kunst in ihrer Heimat, um öffentliche Angelegenheiten und Probleme zum Thema zu machen. Ich bin gespannt, wie sie diese Idee in die documenta 15 einfließen lassen.«

 

ruangrupa, 31. São Paulo Biennale (2014): RURU, 2000-ongoing, verschiedene Materialien und Formate; Foto: ruangrupa

 

 


Im Rahmen der Veranstaltung am 22.02. 2019 stellte die neue künstlerische Leitung der documenta 15 – von ruangrupa anwesend waren Farid Rakun und Ade Darmawan – ein Kurzkonzept vor, mit dem Arbeitstitel Lumbung.

 

Lumbung, übersetzt bedeutet es in etwa »Reisscheune«, ist ein kollektives Topf- oder Ansammlungssystem, bei dem die von einer Gemeinschaft produzierten Pflanzen als zukünftige gemeinsame Ressource gelagert werden.

 

Wenn die documenta in der edlen Absicht gegründet wurde, europäische Wunden der Nachkriegszeit zu heilen, sollten wir dann nicht die Absicht darauf erweitern Gebiete zu heilen, die an anderen Wunden leiden, die im Kolonialismus, im Kapitalismus, der Abgeschiedenheit und im Patriarchismus ihre Wurzeln haben - um nur einige mögliche Ursachen zu nennen?

 

Aufbauend auf der Vielzahl von ruangrupas kollektiven Erfahrungen mit der direkten Umsetzung des institutionellen Aufbaus als künstlerische Form, schlossen wir eine Zusammenarbeit mit der documenta beim Sich-Ausdenken, Rumbasteln, Erproben und Umsetzen von Modellen von koperasi (nicht eins zu eins übersetzbar mit Kooperative, aber eng dran), ein ökonomisches Modell, das auf den demokratischen Prinzipien von rapat (Versammlung), mufakat (Vereinbarung), gotong royong (Gemeinschaftsgüter), hak mengadakan protes bersama (Recht auf kollektive Proteste) und hak menyingkirkan diri dari kekuasaan absolut (Recht auf Abschaffung der absoluten Macht) basiert. Im Mittelpunkt dieser Vorgehensweise steht die Lumbung als Modell für Ressourcennutzung.

 

Von Kassel aus betrachten wir die documenta als einen Pool von Ressourcen, der sich in der Stadt befindet, aber global durch ein zeitgenössisches Kunst-Ökosystem funktioniert. Wir halten die documenta für den perfekten Partner für ruangrupa, um ein anderes Modell – und somit auch Verständnis – von Nachhaltigkeit bei der Förderung der Ausübung sozial wirkungsvoller zeitgenössischer Kunst zu implementieren. Für Kassel sehen wir eine documenta Ausstellung vor, die auf der Stadt und den darin existierenden Systemen basiert und sie mit mehreren Strategien feiert, die sich auf aktuelle Themen wie alternative Bildung, regenerative Ökonomiemodelle und die Bedeutung von Kunst in der sozialen Praxis konzentrieren. Zu diesen Strategien gehören unter anderem eine umfangreiche Kunstausstellung an den allseits bekannten documenta Ausstellungsorten, eine Reihe von 1:1-Umsetzung in Kassels öffentlichem Dienst (wie Schulen, Universitäten, Banken, Krankenhäusern, u. a.) sowie öffentliche Programme.

 

Dieses Hin- und Her-Schema, bei dem Kassel in die Mitte des Prozesses gesetzt wird, ist dialogorientiert und soll unvorhergesehene hybride Kunstpraktiken und -formen hervorbringen.

 

Dabei werden wir zunächst eng und kollektiv mit Kuratoren, Technologen und Ökonomen sowie anderen Initiativen und Kollektiven in verschiedenen Teilen der Welt zusammenarbeiten. Diese kooperierenden Stellen sollen dann ihre Strategien in der Realität anwenden, indem sie die bestehenden eigenen Praktiken damit verbinden - zunächst in ihrem jeweiligen Kontext, um dann 2022 in Kassel gezeigt zu werden.

 

ruangrupa, SONSBEEK'16: transACTION, Arnhem: Isvanto Hortano: Feldküche (Mellow) * 2 (2016); Foto: Maurice Boyer

 

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