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Leseprobe: Ayu Utami – Larung

»Fledermäuse«

 

In verschiedenen Erzählsträngen, die sich um eine Handvoll Figuren gruppieren, zeichnet die Autorin Ayu Utami ein Bild der Lage unter dem repressiven Regime Suhartos. Lesen Sie aus ihrem zweiten Roman, Larung, einen längeren Auszug des Kapitels »Fledermäuse«.

von Ayu Utami, in der deutschen Übersetzung von Peter Sternagel, vorgestellt von InMaOn / JH

 

Ayu Utami während einer Lesung in Berlin 2015, im Jahr als Indonesien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war; Bildquelle: Jörg Huhmann

 

 

Bei dem Kapitel »Fledermäuse« handelt es sich um eine Metapher für die Menschenjagd 1965/66, ausgelöst durch den vermeintlichen Putschversuch im September 1965 und die nachfolgende Machtübernahme Suhartos.

 

 

Sie bringt mich zu einer Fledermaushöhle.

 

Wir kommen an einer Stelle vorbei, an der mir einen Moment lang ein ranziger Geruch in die Nase steigt, wie von meiner Großmutter. Ich schaudere und werde gleichzeitig traurig.

 

Wir sind zu dritt, sie, Muluk, ihr Helfer, der mich vorhin empfangen hat, und ich selbst. Der junge Mann trägt die alte blinde Frau auf dem Rücken. Als wir durch den Teakwald laufen, scheint seine Last ihm sehr leicht zu sein. So wie mir meine Großmutter, wenn ich sie aus der Badekammer trage. Ich kann die treue Ergebenheit in seinen Augen lesen und erkenne darin meine eigenen Augen. Sie sind wie der Spiegel eines dunklen Sees, in dessen Tiefe ein Geheimnis liegt: die unerklärliche Hingabe an die Großmutter. Ein Gehorsam, der etwas Abstoßendes hat und doch schön ist. Eine Spannung zwischen Abscheu und Bereitwilligkeit, die bei mir in dem Moment ihren Höhepunkt erreicht hat, als ich beschlossen habe, dem Leben meiner Großmutter ein Ende zu bereiten. Muluk, mein Freund, wann wirst du tun, was ich zu tun im Begriff bin, denn das ist unser Schicksal?

 

Den Zugang zur Höhle bildet ein Spalt am Abhang eines Hügels. Es geht tief hinein. Zwischen Farnkraut und ähnlichen Gewächsen, die einen frischen, bitteren Geruch verströmen. Die Spitzen ihrer Blätter, zusammengerollt wie kleine Föten, hängen tief herab. Als ich hinuntersteige, wird es kühler und feuchter. Unten fließt der Bach Lembu Peteng, dessen Lauf ein kleiner Fluss kreuzt, der aus dem Inneren der Höhle kommt. Es ist finster. Wenn das Wasser in der Höhle steigt, was manchmal passiert, dann sitzt man, wie es heißt, in der Falle, falls man sich nicht in die Schächte oberhalb flüchten oder an den Stalaktiten hinaufklettern kann. Wenn die Gefahr vorüber ist, dann bleibt der Kalkstein glatt und durchsichtig wie junger Marmor zurück, denn das Wasser spült Moos und Algen fort, die sich im Schlamm zwischen dem verwitterten Kalk festgesetzt haben.

 

Man sagt, der Bach fließe in der Höhle unterirdisch weiter und münde in einer großen Spalte direkt in den Indischen Ozean. Dann vernehme ich die Stimme der alten Frau wieder, die von den Wänden widerhallt: »Die Leute, die deinen Vater umgebracht haben, Junge. Es sind dieselben Leute, die mit den Lastwagen. Sie schleppten alle, die sie für Feinde hielten, heran, lebendig oder tot, Frauen wie Männer, die einen mit Kopf, die anderen ohne, oder überhaupt bloß den Kopf, und warfen sie im Südosten in ein Erdloch. Unterhalb davon floss dieser Bach hier entlang, parallel zum Brantas-Strom. Auf diese Weise wurden die herabgeworfenen Körper von der Strömung erfaßt und zum offenen Meer getrieben. Wer noch lebte, kam unterwegs um, vom Strudel erfaßt, so dass alles, was dort angetrieben wurde, nur noch weiß aufgetriebene Leichen waren. Blutlos waren sie und stanken. Das geschah im Jahr 66, aber noch heute zittern die Leute hier, wenn sie an diese Jahreszahl denken oder an irgendeine Kleinigkeit, deretwegen unschuldige Nachbarn umgebracht worden sind. Es war eine ganz furchtbare Zeit. Ein Heer von Todesengeln war auf die Erde herabgefahren und hatte die Gesichter von Menschen angenommen, doch niemand wußte, was für Menschen es waren. Das wußte man erst, wenn sie einen zum Rand eines Grabens schleppten, mit dunklem Gesicht, ohne Augen. Niemandem konnten wir mehr vertrauen, dem Geliebten nicht, nicht einmal uns selbst. Denn damals brauchte man bloß auf einen anderen Menschen zu zeigen, um sich selbst zu retten. Den Schatten des Todes über dem eigenen Kopf auf den eines anderen zu lenken. Doch auch wir waren gepeinigt von der Sorge: Sitzt uns nicht der Tod schon im Nacken? Droht nicht Freunden schon das Unheil? Wie konntest du gewiss sein, Junge, dass deinem Vater nicht dasselbe Schicksal beschieden war wie den Menschen, die man in den unterirdischen Fluss warf? Und wer konnte sicher sein, dass der Tunnel nicht zur Hölle führte, denn es gibt keine Aufrichtigkeit zwischen denen, die miteinander verfeindet sind, es gibt nur Gewinner und Verlierer. Früher oder später fahren alle zur Hölle, zu dem Ort, wo die Zungen der Betrüger in feine Stücke gehackt werden.«

 

»Gibt es denn keine erfreulicheren Geschichten als diese«.

 

»Die Fledermäuse in dieser Höhle, mein Junge, haben eine unheimliche Geschichte. Sie sind hier, du musst nur alle deine Sinne schärfen, um sie wahrzunehmen. Zu Hunderten, ja zu Tausenden hängen sie in den Nischen und Spalten an der Decke der Höhle. Spürst du nicht, wie ihre winzigen Herzen pochen? Spürst du ihre warmen Körper nicht? Du kannst sie nicht sehen, denn das Tageslicht dringt nicht bis hierher. Wenn sich jedoch Sonnenstrahlen hierher verirren würden, dann wären die kleinen Lichter an der Decke der Höhle wie eine riesige Sternenmenge, mit dem Großen Bären und den anderen Sternbildern des Tierkreises. Hinter ihnen sind überall verschlungene Gänge, in denen Fledermäuse in unüberschaubarer Menge sitzen, zusammengepfercht wie die Menschen in den engen Gassen der Großstädte. Weißt du, wer sie sind?«

 

»Wenn ich ehrlich sein soll, nein.«

 

»Es sind die Verlorenen und Besiegten. Sie sind nicht tot, denn sie leben nachts in unseren Träumen. Lach nicht darüber und denke nicht, es wäre ein Ammenmärchen. Nur wenige Menschen haben bisher gehört, was ich Dir jetzt erzähle:

 

 

Die Leute nannten sie das verschleierte Mädchen. Sie lebte vor vielen hundert Jahren hier, im elften Jahrhundert, im Reich Dhaha, bevor es in zwei Hälften geteilt wurde, Kedhiri im Westen und Jenggala im Osten. Sie hatte sich König Airlanggas Zorn zugezogen und musste fliehen. Sie zog von Wald zu Wald auf der Suche nach Durga. Die Göttin verbirgt sich gern in alten Bäumen, besonders in Waringins, in Kepuh- oder Kapok-Bäumen. Das Mädchen blieb unsichtbar, die Leute in den Dörfern sahen nur, wenn sie durch die Ritzen ihrer Bambuswände lugten, einen Schatten vorübergleiten. Ihre Schritte schwebten über der Erde, sie bewegte sich geschmeidig wie ein Panther, die Ringe aus kleinen Münzen um ihre Fesseln klimperten ganz leise. Ihr Hüfttuch war dunkel gesprenkelt. Die Menschen spürten es, wenn sie vorüberkam, denn sie verströmte einen feinen Duft von Cempaka-Büten. Doch war sie fort, blieb Leichengeruch in der Luft hängen.

 

 

Einige glaubten fest daran, sie wäre Ratna Manjali, die von ihrem Gatten und von König Airlangga verstoßen worden war und den Schleier anlegte, um nicht erkannt zu werden. Doch konnte es niemand beweisen. Andere wieder behaupteten, es handele sich um eine gewöhnliche Frau, die wegen einer Schandtat verflucht worden wäre und der daraufhin ein Bart und auf der Brust Haare gewachsen seien. Sie habe aus Kummer über die erlittene Schande ihren Körper verhüllt.

 

Sobald das Gerücht umging, sie sei wieder erschienen, suchten die Dorfkinder früh am Morgen auf dem Fußweg nach Spuren ihrer Tränen, die ihr nachts unter ihrem Mantel über den Körper flossen, auf den Boden fielen und dort zurückblieben, wie Tränen von Riesen: schön anzusehen. Sie vergingen nicht, aber sie waren giftig. Bloß nicht daran riechen! Sie glänzten, waren aber nur schöner Schein. Die Kinder brachten sie auf Taroblättern nach Hause, wie Silberschmuck auf grünem Samt. Sie übergaben sie dem Dorfältesten, der damit Ehefrauen und junge Mädchen vor Ehebruch warnte.

 

Denkt nur, wie wunderschön Dewi Uma, der Schatz von Gott Shiwa war! Nicht aus Lust, sondern nur um ihre Sehnsucht zu stillen und zu ihrem Gatten auf die andere Seite des Stroms zu gelangen, gab sie sich einem Schiffer hin – das war der Preis, den er verlangte, um sie überzusetzen.

 

Da war sie verwünscht und in ein Ungeheuer verwandelt worden. Am ganzen Körper wuchs ihr rotes und schwarzes Haar und auf der Stirn ein Horn. Aus Scham und Zorn flüchtete sie sich ins Dunkel der Friedhöfe und verbarg ihre hässliche Gestalt im Finsteren.

 

So wurde Dewi Uma zu Durga, der Königin der Zauberinnen.

 

Die Wahrsagerinnen und Zauberinnen waren damals sehr mächtig. Am Rande des Reiches Dhaha, im Weiler Jirah, lebte eine Witwe. Das war Calon Arang, eine Meisterin in der schwarzen Kunst. Ihre Schülerinnen waren kampfeslustige Jungfrauen mit kühner Stirn wie die Winde: Lendi, Larung, Gandi, Guyang, Weksirsa und Mahisawadana. Sie waren so schnell wie Pfeile. Doch Calon Arang war von großem Zorn erfüllt. Denn da sie eine Witwe war, kam niemand und hielt um die Hand ihrer Tochter an. Das ist das Unglück der Frauen: Ohne Mann ist eine Frau bedeutungslos, er ist es, der ihren Wert bestimmt. Und so hoffte Ratna Manjali, ihre schöne Tochter, vergeblich.

 

Da ging Calon Arang, um Durga auf dem alten Friedhof ein Opfer darzubringen. Der war sehr alt, die Nangkas und die Früchte der Tamarinde schmeckten besonders herzhaft, weil sie mit ihren Wurzeln die Essenz der Leichen aufsogen. Die Göttin Durga erschien aus den Faserwurzeln des Kapokbaums, aus der aufgeplatzten Kapokschote, aus deren Blättern wie eine summende Biene, bevor sie ihre hehre Gestalt annahm. Sie war schwarz. Sie hatte Verständnis für Calon Arangs Wut. Kurz darauf war das Schwirren von Insektenflügeln zu hören, wie von Termiten oder von Heuschrecken, und aus den Gräbern krochen Larven ans Licht, aus Wesen, die im Sterben lagen. Die Luft füllte sich mit stachligen Insekten. Vor dem Tor von Airlanggas Palast starben die Menschen wie Fliegen. Die Leichen türmten sich übereinander. Gestank erfüllte die Luft. Die Menschen starben, bevor ihre Mitmenschen sie begraben konnten.

 

Die Wut der Hexe wurde durch einen weisen Mann besänftigt. Der war alt und besonnen, trug einen Spitzbart und einen Haarknoten. Weiß. Vielleicht grau. Es war Empu Baradah mit seinem Schüler Empu Bahula. Der junge Priester sollte Ratna Manjali heiraten, um die Wut ihrer Mutter zu besänftigen. So ist es: Die Frau stiftet Unheil, doch ein Mann bringt ihr die Rettung.

 

Doch als die Epidemie geendet und sich der Zorn der Witwe von Jirah gelegt hatte, erschlug Empu Baradah die alte Frau unter einem Hibiskus. Da wurde die weiße Magie zur schwarzen. Man konnte am Nachthimmel eine schreckliche Lichterscheinung sehen. Wie ein sprühender Feuerball aus dem Schlund des Semeru.

 

Zwei Schülerinnen von Calon Arang, Weksirsa und Mahisawadana, kamen zu dem großen Empu und warfen sich vor ihm auf die Knie: »Befreie uns in deiner heiligen Stille von dem Zauber.« Gandi, Guyang, Lendi und Larung jedoch entschieden sich dafür zu sterben. Allerdings waren sie nicht tot, sondern erscheinen bis heute nachts den Menschen in Träumen.

 

Manjali weinte. Die Geschichtenschreiber berichteten nie von ihren Tränen, denn sie schrieben nur mit Kemiri-Asche auf Lontarblätter. Sie weinte, obgleich Bahula, ihr Mann, sie zu trösten versuchte: „Die alte Hexe ist zu Recht tot.“ Manjali schrieb jedoch mit ihren Tränen. Ihre Geschichte wurde von den Fasern im Papier aufgesogen. Sie ist nicht mehr lesbar.

 

Meine Mutter – ihr Zorn kam nicht von ungefähr.

 

Wie auch die Menschheit nicht aus dem Nichts kommt,

 

Sondern von einer Substanz, die keinen Anfang hat,

 

Wie die Zahlen: wo sind ihre Grenzen?

 

Meine Mutter – ihr Zorn kam nicht von ungefähr.

 

Sondern von einem alten Werturteil, von einem alten Vorurteil vergangener Zeiten.

 

 

»Mann, wie konnte ich bloß zulassen, dass du mich heiratest?«

»Damit die Ungezieferplage und die stachligen Insekten von der Erde verschwinden. Bist du nicht froh, die reifen Reisfelder zu sehen, so schön wie dein Leib?“

 

Manjali ging jedoch eines Nachts weg. Ließ ihren Mann unter dem Moskitonetz zurück. Sie flüchtete zu Gandi und Guyang, zu Lendi und Larung. Zu den Spuren ihrer Mutter.

 

Die Zeit, vielleicht auch ein Fluch veränderte allmählich ihre Erscheinung. Fraß ihre Schönheit auf. Es hieß, ihre Haut sei immer dunkler geworden, am ganzen Körper seien ihr Haare gewachsen und überall hätten sich Falten gezeigt, unter ihrem flatternden Kleid, bevor der Wind, derselbe Wind es in Fetzen riss. Sie habe ihre schöne Gestalt verloren. Als sie schließlich in die Höhle kam, wo die Hinterlassenschaft ihrer Mutter in den Korallen und in der Decke aufgehoben waren, wurde sie eins mit den anderen, die dort hausten: Tausende, die von Empus besiegt worden waren. Nachts erschien sie im Traum und sang mit näselnder Stimme. Wir können hören, wie ihr Gesang widerhallt.

 

Aber die Leute fanden nie wieder Tränen auf den Wegen.«

 

Ayu Utami während einer Lesung in Berlin 2015, im Jahr als Indonesien Ehrengast der Frankfurter Buchmesse war; Bildquelle: Jörg Huhmann

 

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Stille. Ab und zu fliegt ein kleiner Vogel, der farblos scheint, zwischen den tropfenden Stalaktiten hin und her. Die Geschichte hat in mir eine eigenartige Traurigkeit hinterlassen, wie etwas, das meinem Leben vertraut ist, aus einer früheren Zeit kommt, vielleicht aus meinem früheren Leben, die Höhle jedoch nimmt in meinen Augen immer deutlicher Gestalt an. Ihr Boden besteht aus einer Schicht Korallen und kleinen spitzen Steinen, von denen die Füße schmerzen. Das Gelände fällt zum Fluss ab, der momentan wenig Wasser führt. Die Steine im Fluss sind von dem schnell dahinfließenden Wasser glatt poliert. Um eine eventuell einsetzende plötzliche Flut mache ich mir keine Sorgen, denn ich vertraue der alten Frau.

 

Doch wie kann ich ihr eigentlich vertrauen und annehmen, dass sie mich nicht an einen Felsvorsprung locken und in den unterirdischen Fluss stoßen will, dort wo einem Wogen über den Kopf schlagen, die Lungen aufblähen und die Organe zerstören? Woher nehme ich die Zuversicht, dass sie mit meinem Plan einverstanden ist? Wie kann ich gewiss sein, dass sie nicht meine Großmutter, ihre Freundin, schützen wird, die ich töten will?

 

Was suche ich hier eigentlich? Bin ich etwa schon in eine Falle geraten? Es ist wie das erste Wagnis im Leben, wenn bei der Geburt dieses Leben beginnt. Ich gehe dem Tod entgegen, dem eigenen oder dem meiner Großmutter.

 

In der Mitte verläuft ein Graben, der Wasser führt, wenn auch nur niedriges. Darin türmen sich Felsbrocken, glatt, wüst durcheinander, schlammbedeckt. Muluk und die alte Frau führen mich in einen anderen Teil der Höhle, der hinter einem großen Felsen ansteigt. Ich erkenne die Gesichtszüge des Feldherrn von Majapahit, Gajah Mada, - allerdings mit abgeschlagener Nase – die aus dem Felsen herausgemeißelt sind. Der junge Kerl ist flink wie ein Affe. Er hat Hornhaut an den Fußsohlen und gleitet mühelos über die glatten, lehmverschmierten Kalkfelsen. Ich habe extra meine Schuhe ausgezogen und an meine Gürteltasche gebunden, rutsche aber trotzdem bei dieser Tour mehrmals aus, die inzwischen schon eine halbe Stunde dauert. Langsam kommen mir Zweifel, ob ich dieses beschwerliche Unternehmen fortsetzen soll, um mein Ziel zu erreichen. Aber es ist längst zu spät zur Umkehr, denn ich habe nun schon ein ganzes Jahr damit zugebracht, viele Menschen dafür zu gewinnen, mir Informationen zu geben, die mich hierher geführt haben. Mein Erfolg wäre die gerechte Belohnung für ihre Bemühungen. Großmutters Tod wäre unsere gemeinsame Leistung, denn wenn sie bereit waren, mich zu unterstützen, dann wäre das doch ein gemeinsames Unternehmen? Oder ist es umgekehrt? Ist all dies eine Verschwörung, die auf meinen Tod abzielt? Vielleicht erlebe ich gerade das letzte Abenteuer in meinem Leben.

 

»Was wollen wir hier eigentlich und wie lange soll das alles noch dauern«, frage ich ungeduldig.

 

»Ruhig, mein Junge. Wir gehen nur zur untersten Stufe der Finsternis, wo die Luft der verstorbenen Seelen noch nicht so dick ist und du noch frei atmen kannst. Daher hol tief Luft, solange es noch geht. Etwas, die Menschen nennen es Gusti Allah, schenkt uns am Anfang das Leben. Aber es gibt auch Wesen, die uns vor den Todesengeln verbergen. Sie sind hier, obgleich hier kein luftleerer Raum ist.«

 

Auf dem Rest des Weges spüre ich die Leere wie ein Summen im Ohr. Die alte Suprihatin beruhigt mich, doch zugleich fühle ich mich auf unbegreifliche Weise besorgt. Bin ich denn in den langen Jahren meiner Großmutter so nahe gekommen, dass ich jetzt spüre, jemanden gefunden zu haben, der ihr gleicht? Aber woher nehme ich die Gewissheit, dass sie – die Alte und meine Großmutter – nicht gemeinsame Sache gegen mich machen? Ich möchte aus der Höhle fliehen, mich vergewissern, dass es draußen hell ist, doch eine Kraft drückt mich wie ein heftiger Wind in eine Sackgasse. Das Gelände steigt weiter an, es wird immer finsterer und riecht modrig. Uringestank und Brandgeruch mischen sich miteinander. Mir ist, als käme ich meiner Großmutter immer näher, als läge sie in einer der schwarzen Felsnischen. Ich fühle, dass sie schon vor mir da war, größer als früher, dass sie mich wie ein Schatten erwartet, bereit mich zu packen oder in ihren eigenen Körper hineinzuziehen.

 

»Hier ist es.«

 

Wir machen halt. Vor uns wölbt sich eine Höhlung, wie ein Rippenbogen, an dem in der feuchten Luft das Fleisch verfault und das Blut geronnen ist. Der Gestank von Phosphor sagt mir, dass wir drei hier nicht allein sind, sondern dass uns Wesen von den Wänden herab belauern, zu Hunderten, ganz klein, pulsierend wie Schlagadern. Mit winzigen Zähnen, scharf. Die Alte lässt ihren Gehilfen das schwache Licht der Taschenlampe löschen. Da werde ich wie sie, blind, und, mein Freund – – schon lange habe ich mich nicht mehr an dich gewandt, – du wirst wissen, wie wach unsere Ohren und unsere Haut in dem Moment werden, in dem wir nichts mehr sehen. Wie sensibel und gleichzeitig machtlos.

 

Sie fordert mich auf, mich hinzusetzen, während sie selbst sich mit gekreuzten Beinen niederlässt. Sei still, sagt sie, sprich nicht, bevor ich es dir nicht erlaube, denn dies ist ein Ort, an dem die Menschen kein Recht haben, weil sie ihn nicht geschaffen haben. Sie allerdings schweigt nicht, sondern murmelt lange mit leiser Stimme Mantras, die manchmal undeutlich, manchmal klar, dann wieder kaum hörbar im bemoosten Kalkstein verhallen. Ich habe das Gefühl, als ob sich die Natur um mich herum verändert, es ist ein ganz seltsames Gefühl, denn ich werde zu einer unbeweglichen Statue, fest wie Stein, meine Poren werden alt und steif, als ob meine Körpersäfte von der Höhle aufgesogen würden, die sich daran labt. Der Pulsschlag an den Wänden der Höhle wird immer stärker, es ist, als erhöbe sich ein Wind. Sie flüstern, piepsen und verströmen einen unangenehmen Geruch, die winzigen Herzen. Schließlich befällt mich ein Gefühl von Einsamkeit und Fremdheit, denn ich bin kein Teil dieser Schattenwelt hier. Es ist stockdunkel. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Kein Subjekt, kein Objekt, sondern nur etwas Fremdartiges. Was sind das für Wesen, was verbirgt sich in der Dunkelheit, die in diesem Moment lebendiger ist als ich? Ich muss hier weg oder ich werde verdorren.

 

Nach dem Gefühl der Fremdheit, das an mir zieht, ist es mir plötzlich, als sei meine Todesstunde gekommen. Funken wie von einem Feuerwerk leuchten auf, von irgendwoher, wie Kohlen, die glühen, aber nicht leuchten. Erst nur ein, zwei Funken, dann kleine Blitze, die in alle Richtungen sprühen, ich kann nicht erkennen, woher sie kommen, wie Splitter von einem Feuerball. Sonst liegt die Höhle in völliger Dunkelheit, allerdings vernehme ich – meine Ohren werden immer hellhöriger –, wie die alte Frau von ihrem Meditationssitz aufspringt – jetzt ist es nicht mehr Muluk, der sich flink bewegt, sondern sie. Es scheint, als fange sie etwas mit ihrem Atem ein, dann höre ich sie mehrere Minuten lang im Feuer hin und her springen, so dass ich vergesse, dass sie blind ist. Dann wird es totenstill. Eine Stunde, zwei Stunden, fünf Stunden – – ich kann nicht sagen, wie lange. Und ich traue mich nicht zu fragen. Es ist das erste Mal seit fünfzehn Jahren, dass ich mich nicht traue. Eine schreckliche Müdigkeit befällt mich, wahrscheinlich aus Mangel an Sauerstoff, ich muss gähnen.

 

Etwas reißt mich aus meinem Wachtraum.

 

Eine Welle aus flatternden Flügeln, wie eine Woge, die von oben kommt, wie der Kamm einer ungeahnten Flutwelle. In der Kuppel über mir öffnen sich zehn, zwanzig, dann Hunderte von Flügeln, dann Tausende, und wie wenn Dominosteine fallen, aus den verschiedensten Richtungen, ohne zusammenzustoßen, so stürzen die Wände unaufhörlich zusammen, ich muss mich niederkauern, den Kopf mit Händen und Armen vor den Geschöpfen schützen, die Schicht um Schicht herunterfallen, während sie schrille Schreie ausstoßen und Gestank verbreiten. Donnernd, zischend. Die Fledermäuse flattern kreisend durch die schmalen Gänge nach draußen, der Nachtluft entgegen, die sie schon in der Höhle gewittert haben, lassen einen scharfen Luftzug voller Guanostaub zurück.

 

Minutenlang hallt in meinen Ohren das Geräusch des zusammenbrechenden Gewölbes nach, ich glaube, der einzige Mensch hier zu sein, dann wieder glaube ich, kein Mensch zu sein – der Unterschied zwischen beidem, Menschsein und Nicht-Menschsein hat sich aufgelöst. Aber ich sehe wieder die Funken glühender Kohle. Diesmal sind sie größer, gelb, sie werfen einen Moment lang einen Lichtschein auf die Brocken von Fledermauskot, zerplatzen dann in einer hellen, orangefarbenen Wolke und verbleichen. Ich höre die alte Frau heftig atmen. Dann tritt Stille ein, die Stille nach einer Explosion. Nur ein kleiner Schwarm von Tieren fliegt noch durch den Schacht, wie eine Woge, die verebbt.

 

Schließlich erlaubt sie mir wieder zu sprechen. Mit schwacher Stimme sagt sie: »Das waren die letzten, es ist vorbei. Es ist Maghrib. Ich habe meine Freundin besiegt.«

 

Dann sucht sie meine Hand, ich reiche sie ihr, und mit einem leichten Zittern drückt sie mir ein paar grobe Kügelchen in die Hand, die ich erst für Steinchen halte. Doch im schwachen Schein der Taschenlampe sehe ich, dass es kleine Amulette sind, deren Herkunft ich mir nicht erklären kann. So groß wie Knöpfe und in der Farbe von dunklem Zinn. Auf der Oberseite sind kleine Buckel, Gravuren, möglicherweise Schriftzeichen, vielleicht Verwünschungen. Sie sagt, ich solle nicht fragen, denn die Antwort würde mich doch nur ratlos machen. Dann zerstreut sie meine Zweifel: »Muluk, mein treuer Gehilfe, das brauchst du für mich nicht zu tun, denn ich gehe von selbst, wenn meine Zeit gekommen ist.«

 

Sie wendet sich an mich: »Das sind sechs Amulette, die du auf ihrem Leib verteilen musst, von der Brust bis zum Nabel, damit der Ausgang für ihre Seele geöffnet wird. Mein Junge, du hast sechsmal Gelegenheit, dein Tun zu bereuen, bevor sie wirklich tot ist.« Es ist, als würde ihre Stimme von den Wänden verschluckt, die wir nun hinter uns lassen.

 

Auf dem Rückweg trifft uns noch einmal der Ausläufer eines Wirbelwindes von einem nachfolgenden Schwarm, der gerade die Höhle verlässt. Die Luft ist erfüllt vom Geräusch der schlagenden Flügel mit den kleinen Fingern, von einem fast unhörbaren Schwingen, man spürt die Haare, die heißen kleinen Körper, die Krallen dicht an dicht.

 

Unten steigt der Wasserspiegel.

 

Diese Höhle ist die Stadt der Fledermäuse. Zu dieser Tageszeit sind sie am aktivsten. Muluk lacht und zum ersten Mal höre ich ihn etwas sagen: »Ich bin oft hier, ich sammle den Kot der Fledermäuse als Dünger. Wenn du die Pilze magst, die auf Kuhmist wachsen, die findest du bei dem Graben am Teakwald. Ich esse sie fast jeden Tag. Dann muss ich immer lachen und bin gleichzeitig tieftraurig.«

 

Als wir aus dem Felsenschlund heraustreten, liegt die Landschaft wieder vor mir, die ich so vermisst habe. Es ist wie ein Blick in eine lange zurückliegende Zeit.

 

Die Sonne ist untergegangen. Nur ihr Widerschein ist im Westen noch zu sehen, gleißend wie die glühende Asche, die der Gamelanschmied in die Ofenecke fegt, nachdem er das Krewang fertig geschmiedet hat. Aus der Halle hört man, wie jemand das Instrument stimmt, noch einmal, zum letzten Mal, bevor alles aufgeräumt wird und es still wird, nur die Wärme des verlöschenden Feuers ist noch übrig und ein paar Tropfen erkalteter Bronze.

 

Am Himmel fliegen Tausende von Fledermäusen umher, kommen von einem verborgenen Ort hoch oben. Und wir wissen, eine Welt, verschieden von der unseren, tut sich in der Nacht auf. Eine Zivilisation unbekannter Wesen, die kleine Zitzen besitzen und Härchen, die den Himmel verdunkeln in Schwärmen mit langsam flatternden Flügeln, die ganz anders sind als die vielen Vögel des Tages.

 

Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse 2015, auf der sich Indonesien als Ehrengast präsentierte, gab es einige sehr gut besuchte Lesungen mit der indonesischen Erfolgsautorin Ayu Utami, u.a in Berlin. Dort stellte sie ihren ersten in Deutsch veröffentlichten Roman Saman und den im Sommer 2015 erschienenden neuen Roman Larung vor; Bildquelle: Jörg Huhmann  

 

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Mit Absicht nehme ich nicht den Nachtzug, aus Furcht, ich könnte einschlafen. Der helle Sonnenschein wird mich dagegen nicht vergessen lassen, dass ich um den Hals einen Beutel mit Amuletten trage, sechs an der Zahl. Die darf ich nicht verlieren, denn damit hoffe ich, das Ende meiner Großmutter herbeizuführen. Für sie ist es Zeit zu sterben. Im Dunklen passiert viel, wovon wir nichts wissen.

Einige Schwierigkeiten habe ich hinter mir. Der wütende Besitzer des Motorrads, das ich erst am nächsten Tag zurückbrachte, hatte seine hitzköpfigen Freunde zusammengerufen. Sie lauerten schon vorn an der Gasse auf mich. Ich hatte das schon kommen sehen und vom Abhang vor der Fledermaushöhle Pilze mitgebracht, die auf Pferdemist gewachsen waren. Das ist eine Art Psilocybe, die viel stärker wirkt als die Pilze auf Kuhdung. Sie verursacht Halluzinationen, die einen umhauen können. Jedenfalls ist es ein preiswertes Mittel, um high zu werden. Ich hatte den Koch in der Pension gebeten, sie mit Rühreiern und kleingeschnittenen Zwiebeln in der Pfanne zu braten, während ich drei Flaschen Bier besorgte und mich entschuldigte. Dann allerdings machte ich mich schleunigst aus dem Staub, bevor sie anfingen high zu werden, denn wenn sie wirklich ausflippten, konnte wer weiß was passieren. Vielleicht sind sie jetzt am Toben, vielleicht sind sie auch heiter – wer weiß das.

 

Meine Mutter empfängt mich am Eingang und fragt ängstlich, ob ich etwa einem Trenggiling, einem Ameisenfresser, begegnet sei.

 

»Wie kommst du darauf«, frage ich, »du weißt doch gar nicht, wo ich gewesen bin.«

 

 

Sie wirkt sehr besorgt. »Deine Großmutter hat davon im Schlaf gesprochen. Die Leute im Dorf sehen darin ein böses Omen. Denn ein Ameisenfresser hat Schuppen wie eine Schlange, aber vier Beine.«

 

Da muss ich lachen. »Die Leute im Dorf haben selbst weiße schuppige Flecken an den Beinen, warum ekeln sie sich dann vor Schlangen? Gibt es keine schlimmeren Zeichen?« Ich bin schon einmal einem Trenggiling begegnet, als ich mich bückte, um Pilze zu sammeln, die am Rande eines Hügels wuchsen. Das Tier sah mich einen Moment lang an, dann huschte es an meinen Füßen vorbei ins Gebüsch. Doch alle Vorzeichen sind schlecht. Eine grüne Fliege in der Nacht, Fledermäuse, der Traum von einem abgebrochenen Zahn, ein Ameisenfresser, eine verirrte Schlange – das sind alles Unglückszeichen.

 

»Man muss doch nicht immer überall Unheilszeichen sehen. Du bist bloß abgespannt, weil ich nicht da war und mich nicht um Großmutter kümmern konnte.«

 

Da ist sie still.

 

»Wo bist du denn eigentlich gewesen, Junge?«

 

»Du hast dich doch nie darum gekümmert, warum fragst du jetzt auf einmal?«

 

»Ich mache mir Sorgen. Und du hast bestimmt vergessen, deine Medikamente zu nehmen, oder?«

 

Meine Mutter weiß nie, wo ich hingehe. Ich bin es gewohnt, meine Sachen selbst zu erledigen. Außerdem fragt sie immer zu viel und kann nicht zuhören. Die beiden Großmütter sind da anders. Sie sind überhaupt unglaublich stark. Vielleicht werden alle Frauen stark, wenn sie alt werden und keinen Busen mehr haben. Männer werden wie Ballons, denen die Luft ausgegangen ist. Sie haben noch geile Augen und Sperma in den Hoden, aber keine Kraft mehr, es herauszuspritzen. Alles ist schlaff, tropft, fließt. Warum werden Menschen alt?

 

Warum werden Menschen alt und krank, bevor sie sterben und verwesen?

 

Weil der Körper das Leben liebt und den Tod mit Schmerzen bekämpft.

 

Ich werde einmal meinen Körper niederringen, bevor mir die Altersschwäche mein Selbstwertgefühl raubt. Ich werde alle Schmerzen niederkämpfen, bevor sie mich in die Knie zwingen. Das Leben kann den Tod nicht aufschieben, aber man kann Schluss machen. Ich werde über meinen Tod bestimmen, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Meine Zeit ist noch nicht gekommen, wohl aber die meiner Großmutter.

 

Sieh dir ihren Körper an, wie er daliegt, so wie ich ihn nun betrachte durch den Türspalt, ein schmaler Schatten, ein schwacher gelblicher Lichtschein fällt auf die Matratze, teilt das Dunkel. Auf dem Bett mit seiner trostlosen Farbe sehe ich Großmutter, ihre Fußsohlen, die Finger, den Oberkörper – ihr Kopf bleibt mir verborgen. Als ich näher trete und die Türöffnung größer erscheint als sie ist – du weißt, mein Freund, wie die Entfernung optische Täuschungen hervorbringt –, kann ich Großmutters Gesicht sehen, wobei der Schatten an ihrem Hals ihr den Kopf vom Körper trennt. Sie ist nicht tot, sie schläft. Um zu sterben, braucht sie mich.

 

Sie braucht mich, um ihr Leben zu beenden, denn sie selbst ist nicht bereit, ihren verfallenden, aber zähen Leib zu besiegen. Der Körper will nicht aufgeben. Ich werde ihr meine Treue beweisen, indem ich ihn besiege und dem Tod übergebe. Großmutter, nachher werde ich die Amulette auf deinem Körper verteilen, aber sag ehrlich, kannst du ein Leben wie dieses noch länger lieben?

 

Sie hat wahrgenommen, dass die Tür aufgegangen ist, denn der Lichtschein hat sich verändert. Sie dreht den Kopf zu mir und ich sehe, dass sie die Augen offen hat und mein Näherkommen bemerkt. Sie lächelt wie ein Baby. Was bin ich für sie: Enkel, Sohn, Ehemann? Drei Nächte habe ich ihren Geruch nicht mehr in der Nase gespürt. Aber jetzt nehme ich Leichengeruch wahr.

 

Eine tote Ratte liegt im Zwischenraum zwischen Zimmerdecke und Dach. Wahrscheinlich hat sie Gift gefressen.

 

Möglicherweise ist es gar keine Ratte, sondern eine Katze. Katzen spüren ihre Todesstunde und ziehen sich in die Einsamkeit zurück, um zu sterben.

 

Richtig, aber was es auch sein mag, es kann den Geruch seines eigenen Körpers nicht vertreiben.

 

»Was hast du da am Hals hängen, Junge?«

 

Sie hebt ihre Hand, als ob sie danach greifen wollte, aber dann überfällt sie ein Zittern und die Hand sinkt auf die Matratze zurück. Ich fasse ihre Hand und halte sie fest. Ich weiß nicht, ob ich wegen ihrer Frage zu zittern beginne. Aber mein Herz klopft, ich spüre an meinem Hals, wie die kleinen Amulettkügelchen in dem Beutel ganz leicht aneinanderschlagen. Ich gebe ihr keine Antwort, sehe sie nur an, lächele besänftigend. Ich hätte ihre eigensinnige Stirn küssen mögen. Großmutter, liebst du wirklich ein Leben wie dieses hier?

 

»Was hast du da um den Hals hängen, Junge?«

 

»Großmutter, ich bin wieder zurück. Ich bin gerade zurückgekommen.«

 

Sie betrachtet den Beutel um meinen Hals, ohne ihren Kopf zu bewegen. Sie senkt ihren Blick, so dass ich das Weiße in ihren Augen, das nicht mehr weiß ist, sehen kann.

 

»Unterwegs sind meine Papiere und das Geld in dem Beutel sicherer als in meiner Hosentasche.«

 

»Ja«, sagt sie mit zitternder Stimme. »Das Portemonnaie – das steckst du in die Tasche hinten. Aber dies hier trägst du zwischen Brust und Hals. Das Leben, Junge, sitzt in der Brust. Nicht im Hintern. Du hast Recht, wenn du wertvolle Sachen in dem Beutel um den Hals trägst. Das Portemonnaie kann ein Taschendieb unbemerkt herausziehen. Aber bevor er das da hat, muss er dich zur Leiche machen. Du bist wirklich ein kluges Kind. Das einzige kluge Kind.«

 

Ich bin kein Kind mehr.

 

Ich setze mich auf einen Stuhl neben ihrem Bett. Eine Hausangestellte kommt herein. Durch die geöffnete Tür dringt nun helleres Licht ins Zimmer. Kaum hat sie den Milchkaffee für mich auf den Tisch gestellt, verscheucht meine Großmutter sie barsch. Eilends verschwindet sie, schließt hinter sich die Tür, so dass wir wieder wie vorher im Halbdunkel sitzen, wo man nicht einmal die Bettpfosten sehen kann. Nur ich und eine schwebende Fläche, darauf meine Großmutter, ausgestreckt.

 

Sie schließt ihre Augenlider, als wollte sie ihre Ruhe haben, schlafen, ihre Hand in meiner. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Muss ich ein schlechtes Gewissen haben? Ich brauche mich nicht schuldig zu fühlen. Was habe ich denn falsch gemacht?

 

Dein Fehler war, dass du gelogen hast. Warum hast du der alten Frau nicht freiweg gesagt, was du in dem Beutel hast? Weil du sie heimlich töten willst. Feigling!

 

Nein, ich bin kein Feigling, ich habe nur ein gutes Herz. Nur zum Tode Verurteilten teilt man den Zeitpunkt ihrer Hinrichtung mit.

 

Ist etwa dein Entschluss, ihrem Leben ein Ende zu machen, kein Todesurteil? Denn ein Todesurteil wird niemals von einem selbst verhängt. Denk dran, verhängen ist kein reflexives Verb.

 

Gibt es einen Tod, den man für sich selbst bestimmt? Jeder Tod ist ein Todesurteil. Aber der Tod wird zum Selbstmord, weil ich sie bin und umgekehrt. Und wer bist du, Stimme, die mich zweifeln lässt. Bin ich du? Bist du ich? So, wie du ich bist und ich du bin, obgleich du mich ablehnst, sind doch ich und meine Großmutter eins. Meine Entscheidung ist die ihre, also die meine. Meine.

 

Wenn das so ist, warum gibst du ihr dann nicht ihren Tod bekannt?

 

Weil das, was ich weiß, auch sie weiß, es also mein Wissen ist.

 

Wenn das so ist, warum erzählst du ihr dann nicht von deiner Reise, so, wie du dir deine Erinnerungen vergegenwärtigst?

 

Ich muss nicht mit mir selber zu reden, das ist doch Schwachsinn! Sei still!! Siehst du nicht, dass sie schläft? Sieh doch nur ihre Augen, ihr Lächeln, wie ein Baby. Bist du so rücksichtslos, sie aufzuwecken? Um ihr den Tod zu verkünden?

 

Großmutter, hängst du wirklich an einem Leben wie diesem?

 

Ihre Augen sind fest geschlossen. Ganz langsam öffnet sich ihr Mund. Ihren Atem rieche ich nicht, aber ich habe Leichengeruch in der Nase. Wie lange mag das Tier schon tot sein?

 

»Großmutter, weißt du, wie lange das Tier über deinem Bett schon tot ist?«

 

Sie antwortet nicht. Schau, wie rasch sie fest eingeschlafen ist.

 

»Wenn ich diese Amulette auf deiner Brust verteile, vom Herzen bis zum Nabel, wirst du dann noch einmal wach, bevor du stirbst?«

 

Ihre Pupillen bewegen sich nicht. Aber der Lichtschein im Zimmer verändert sich. Helligkeit breitet sich aus und die Schatten werden länger. Die Dunkelheit schwindet. Die Tür ist aufgegangen.

 

»Mutter, was möchtest du, warum störst du mich?«

 

»Der Rawon ist fertig und auch der Reis.«

 

»Mutter, mir wird übel, wenn ich so früh am Morgen schwarzes Fleisch sehe. Es erinnert mich an etwas Verfaultes.«

 

»Mit Tauge und sauren Eiern.«

 

»Mutter, hast du jemals über alles nochmals von Anfang an nachgedacht? Tu das, dann wird dir klar, wie verrückt alles ist, wie ekelhaft das Essen, das wir täglich essen. Auch Rawon mit Kluwek, Basilikum und Sambal. Und Mutter, was soll das heißen »saures Ei«? Ist dir nie der Gedanke gekommen, wie abartig eine solche Speise ist. Ein Ei soll sauer sein? Und stinken? Wir nennen das lecker, dabei ist es ekelerregend und gemein.

 

Es ist ein Tod, der nicht schwarz ist wie bei einem tausendjährigen Ei, sondern weiß und gelb in einer grünlichen Schale. Der Tod eines Entenbabys. Und wie grausam wir es behandeln, indem wir es vierzehn Tage in Salz und Asche ziehen lassen. Das ist kein einfacher Mord, sondern eine grausame Untat, die die Natur eines Wesens mit eigenem Bewusstsein verändert. Und, weißt du, Mutter, dass es Bewusstsein nur gibt, wenn auch ein Körper da ist. Dieses lebendige Ei, obwohl es flüssig ist und von uns verschieden, hat eigene Wahrnehmungen und Reaktionen entsprechend seiner chemischen Zusammensetzung. Du kannst dir vielleicht nicht vorstellen, was das Eigelbi empfindet, wahrscheinlich Todesangst und Schmerz, oder unvorstellbares Grauen, wenn die aufgelösten Salzkörner durch die Poren der Eierschale dringen und es ganz langsam in saures Protein verwandeln, das hart wird und stinkt.

 

Und Tauge – du musst dir klarmachen, was Tauge ist. Der Keimling ist eine neu geborene Pflanze, sozusagen ein Pflanzenbaby. Ihr esst nicht etwa junge Blätter, sondern Kleinkinder. Habt ihr noch nie daran gedacht, dass Bäume auch Schmerz empfinden? Sie stöhnen, aber wir hören es nicht.«

 

»Pflanzen können keinen Schmerz empfinden – du Dummkopf!«

 

»Was bist du denn? Das wirst du niemals wissen. Du bist ja keine Pflanze.«

 

»Du bist auch kein Baum. Du bist einer, der vorgibt, Mitgefühl zu haben. Dein Mitleid ist vorgetäuscht. Wollen wir wetten! Pflanzen fühlen keine Schmerzen, weil sie sie nicht brauchen. Angst und Schmerz sind Gefühle, die nur bewegliche Lebewesen haben, so wie Menschen und Tiere, die gehen, laufen, fliehen können. Furcht ist das Alarmzeichen für den Körper, ein Instrument, das zusammengeht mit der Fähigkeit, Gefahren auszuweichen. Auch Schmerzen jeder Art. Pflanzen können einer Bedrohung nicht ausweichen, denn sie haften fest an ihrem Platz. Sie besitzen ja keine Arme, um sich zu wehren, und keine Beine, sondern Wurzeln, so dass sie Gefahren bis an ihr Lebensende nur mit Gift begegnen können, aber sie empfinden keinen Schmerz. Wenn das Gefühl von Schmerz nicht nötig ist, dann gibt es das auch nicht, sage ich dir. Der Körper, mein Freund, ist nur ein Mechanismus. Wir denken, es wären Schmerzen, während es doch nur Zeichen von Gefahr sind. Wir halten etwas für Verlangen und Liebe, während die Leidenschaft nur ein Zeichen des Todes ist, wie das Aufleuchten einer leeren Batterie anzeigt, dass man sie ersetzen muss. Gefühle, mein Freund, sind nur Teile des Instrumentariums dieses komplizierten Systems, das wir Leben nennen. Wie dumm wir doch sind.«

 

»Wie dumm du bist! Pflanzen empfinden sehr wohl Schmerzen. Daher verändert sich die Farbe ihrer Blätter und sie werden im Herbst rot, wie überreife Früchte, die in der kalten Jahreszeit anfangen zu zittern, bevor sie eine nach der anderen abfallen. Das ist Schönheit, die aus Schmerz entsteht. Und du, wer bist du, mit deinen Stimmen, die mich anzweifeln, du bist nichts als ein Gemisch aus Protein, Fett, Kohlenhydrat, Wasser und Kot. Sauer und stinkend.«

 

»Hast du denn keinen Hunger, Larung?«

 

»Mutter, nur Hyänen bekommen Appetit, wenn sie Leichen wittern. Denn sie besitzen ein äußerst wirksames Enzym in ihrem Magen, das die Bakterien eines verwesenden Körpers abtötet. Verdorbenes Fleisch, Mutter, wird nicht nur von Maden aus Insekteneiern befallen, die weiß und fett sind und die man sehen kann, sondern auch von Krankheitskeimen, die man nicht sehen kann. Kleine, harmlose Kristalle.

 

Du irrst dich. Nicht nur Hyänen. Auch Krokodile mögen verwesende Kadaver. Sie verbergen ihre Beute mehrere Tage im Flussbett, bevor sie sie verschlingen. Ein Kadaver, der drei Tage im Schlamm gelegen hat, wie zart und lecker!«

 

»Unsinn! Da gibt es einen großen Unterschied zwischen Krokodilen und Hyänen. Hyänen fressen Aas, weil sie faul und träge sind und ungern jagen, sie jagen ihre Beute anderen Tieren ab oder begnügen sich mit Resten. Krokodile jedoch fressen abgestandenes Aas, das ist ihre Art, die Beute zuzubereiten: im Wasser, mit Humus als Würze. Krokodile bereiten sich ihr Mahl zu, Hyänen sind nur faul.«

 

»Das Fleisch wird kalt. Möchtest du jetzt essen oder erst später?«

 

Ich möchte tot sein.

 

Da meldet sich plötzlich Großmutter und schimpft: »Lass das Kind in Ruhe! Und stör mich nicht im Schlaf!« Dabei schlägt sie die Augen nicht auf.

 

»Dankeschön, Mutter. Ich mache mir das Rawon nachher selbst heiß.«

 

Widerstrebend zieht sich meine Mutter zurück. Sie schließt die Tür und lässt uns wieder im Dunklen.

 

Ich nehme den Beutel an meiner Brust in beide Hände, um mich zu vergewissern, dass die Amulette noch darin sind. Mutter, wenn du ehrlich bist, dann bist du froh, wenn Großmutter nicht mehr ist. Dann gibt es keine Last mehr in diesem Haus und du kannst zu mir sagen: Such dir eine Frau und gründe einen eigenen Hausstand. Du wirst glücklich sein, wenn du mich in geordneten Verhältnissen siehst und mich Begawan nennen kannst wie früher.

 

Großmutter, liebst du wirklich ein Leben wie dieses hier? Antworte mit nein, Großmutter. Sag, dass du das Leben verabscheust. Du hast genug von den Leiden und Schmerzen und brauchst jemanden, der dich davon erlöst. Ich werde es tun, aus Liebe zu dir. Zu deinem Glück. Du bist immer meine Liebste gewesen.

 

* * *

 

 

Ayu Utami, Larung, aus dem Indonesischen von Peter Sternagel.

Erschienen im Horlemann Verlag, Angermünde, Erscheinungsjahr 2015, 328 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.

ISBN 978-3-89502-393-4, Preis 19,90 Euro

Im Rahmen einer Kooperation zwischen Horlemann und Unionsverlag ist von Larung auch ein E-Book erschienen. 


Ayu Utami wurde 1968 in Bogor auf West-Java geboren und wuchs in Indonesiens Hauptstadt Jakarta auf. Sie studierte Literaturwissenschaften und veröffentlicht Romane, Kurzgeschichten und journalistische Beiträge. Kurz nachdem 1994 drei wichtige Nachrichtenmagazine von Suharto verboten wurden, schloss sich Ayu Utami aus Protest der Aliansi Jurnalis Independen (Allianz unabhängiger Journalisten) an. Sie wurde daraufhin mit einem Berufsverbot belegt, war aber im Untergrund weiter als Journalistin tätig.

Ihr erster Roman Saman, der kurz vor dem Sturz Suhartos 1998 erschien, wurde weltbekannt und gewann zahlreiche Literaturpreise (unter anderem den Prinz-Claus-Award). Der Nachfolgeband Larung erschien 2001 in Indonesien.

 

Peter Sternagel | ist 1933 in Waldenburg (Schlesien) geboren. Nach der Schauspiel-ausbildung in München und Berlin war er am Theater tätig und spielte in einigen Filmen mit, nahm dann ein Geschichtsstudium auf, das er 1965 mit der Promotion zum Dr. phil. abschloss.

Als Mitarbeiter des Goethe-Instituts war er in verschiedenen Aufgaben in Indonesien und Japan tätig, zuletzt als Institutsleiter in Bandung.

Aus dem Indonesischen übersetzte er Romane von Ayu Utami, Umar Kayam, Andrea Hirata sowie die Gedichte von Wiji Thukul. 

 

Ein paar Worte ...| von Sabine Müller, Übersetzerin und Autorin

 

Die Autorin und Journalistin Ayu Utami ist seit Erscheinen ihres Romans Saman 2007 im deutschsprachigen Raum keine Unbekannte mehr. Im Mittelpunkt Ihres zweiten Romans, Larung, steht der aus Java stammende katholische Priester Wisanggeni alias Saman, der in einer Gemeinde im ländlichen Südsumatra arbeitet. Die Kleinbauern dort geraten in die Mühlen einer skrupellosen Palmölindustrie: Sie werden eingeschüchtert und durch brutale Übergriffe gezwungen, Ölpalmen anzubauen. Weil Saman sich offen für die Bauern einsetzt, wird er von staatlicher Seite verfolgt; schließlich wird er verhaftet und gefoltert. Mit der Hilfe von vier Freundinnen flieht er nach New York. Yasmin, Cok, Laila und Shakuntala sind beruflich erfolgreiche und emanzipierte Frauen, die Utami aus jeweils eigener Perspektive über ihre Erfahrungen und eben auch über ihre sexuellen Wünsche sprechen lässt. Inneres und äußeres Erleben der fünf Protagonisten sind miteinander verwoben; eindrücklich geschilderte Erinnerungen oder Vorstellungen, etwa von Samans familiär belasteter Vergangenheit, fließen als Traumsequenzen und Rückblenden ein.

 

Die komplex komponierte Verflechtung von realer und mystischer Welt, von individuellen Lebenskrisen und gesellschaftlichen Missständen setzt sich in Utamis Fortsetzungsroman fort. Die Geschichte in Larung knüpft an Samans Flucht nach New York an, wo der ehemalige Priester bei einer Menschenrechtsorganisation arbeitet. Saman und den vier Freundinnen fällt eine heikle Aufgabe zu: Sie helfen drei politisch aktiven Studenten, die vor dem Suharto-Regime aus Indonesien geflohen sind. Der junge Mann Larung, dessen persönliche und politische Motive undurchsichtig bleiben, unterstützt sie dabei. Misstrauen, Ängste und unerfüllte Liebe bestimmen die Gefühlslagen der Romanfiguren. Über die unterschiedlichen Betrachtungen der Protagonisten, Traumbilder und Rückblenden wirft Utami ein literarisches Licht auf die Machtergreifung Suhartos 1965 und die Auswirkungen seines repressiven Regimes der Neuen Ordnung.

 

Sabine Müller | betreibt in Köln das Büro transedit zur Übersetzung und Vermittlung indonesischer Kultur und Literatur. 

 

  

 

Lesung und Gespräch mit der indonesischen Erfolgsautorin Ayu Utami im Literaturhaus in Berlin: v.l.n.r., Martin Jankowski [Schriftsteller und Lyriker], Ayu Utami [Autorin], Peter Sternagel [Übersetzer der beiden Werke von Ayu Utami, Saman und Larung]; Bildquelle: Jörg Huhmann  

 

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