Ein »ethnografischer Roman«
»Meine Jahre bei den Sakuddei«
Ende der 1960er Jahre verbrachte der Kulturanthropologe Reimar Schefold längere Zeit bei der abgeschieden lebenden Ethnie der Sakuddei auf der Insel Siberut. Entstanden ist eine Art »ethnografischer Roman«. Lesen Sie aus dem Buch Ein bedrohtes Paradies. Meine Jahre bei den Sakuddei einige Textauszüge und die Anekdote »Tengatiti«.
von Reimar Schefold, vorgestellt von InMaOn / JH
Amanusia weist den Autor auf die tosende See am Gulubbe-Strand; Bildquelle: Reimar Schefold
Inspiriert durch die Erzählungen seiner Mutter über ihren verstorbenen Vater, den Ethnologen Karl von den Steinen, seinerzeit ein angesehener Forschungsreisender und Sammler, wählte auch Reimar Schefold den Weg des Ethnologiestudiums mit dem Ziel einmal selbst auf Forschungsreise zu gehen.
[...] Mit einem Stipendium der Basler Universität zog ich nach Holland, um mich bei früheren kolonialen Verwaltungsbeamten, Missionaren und Regierungsethnologen nach Aussichten für eine Feldforschung unter möglichst traditionellen Verhältnissen zu erkundigen. Die Reaktionen waren nicht ermutigend. »Sie kommen viel zu spät«, schallte es mir von allen Seiten entgegen. Erst nach langem Suchen, das mit überraschenden Einblicken in postkolonialnostalgische holländische Familienverhältnisse verbunden war, kam von unerwarteter Seite ein rettender Tipp. Er stammte von einer ausgezehrten Schwester der Wuppertaler Rheinischen Missionsgesellschaft, die ich in Rotterdam bei ihrer Ankunft mit dem Schiff abfangen konnte, auf dem sie nach jahrelangem Aufenthalt in den Tropen nach Hause zurückkehrte. Sie hatte auf der Insel Nias, westlich von Sumatra, gearbeitet und meinte, dort sei jetzt nichts Heidnisches mehr übrig. Doch auf Siberut im Mentawai-Archipel weiter südlich, einer Insel etwa so groß wie Bali, sei kürzlich erstmals ein Missionar stationiert worden, der habe ihr erzählt, dass sich einige ursprüngliche Stämme im Inland mit Pfeil und Bogen gegen alle Annäherungen von außen zur Wehr setzten. Das klang genau nach dem, was ich suchte. […] |
Passagen aus »Ein bedrohtes Paradies. Meine Jahre bei den Sakuddei in Indonesien«, dokumentiert von Indonesien Magazin Online mit freundlicher Genehmigung des Quintus Verlags.
[…] Seit meiner Ankunft in Indonesien hatte ich die widersprüchlichsten Gerüchte über Mentawai gehört. Die einen hatten gesagt, alle Mentawaier seien längst missioniert. Die Regierung hätte die alten Bräuche verboten, und von der alten Kultur sei nichts mehr übrig. Andere wieder hatten behauptet, es gebe Gebiete, die noch ganz unberührt seien. Vor allem auf Siberut, der nördlichsten der vier bewohnten Inseln des Archipels, lebten Stämme, die noch nie einen Weißen gesehen hätten.
Nun war ich auf Siberut, und wieder beschlich mich das Gefühl der Enttäuschung, das ich bei meiner Ankunft empfunden hatte. Muara Siberut, der Hauptort der Insel, wo die Polizei und die Regierungsfunktionäre stationiert waren, war ein ziemlich dreckiges und ziemlich verlassenes malaiisches Fischerdorf, wie ich sie zu Dutzenden in Sumatra gesehen hatte. Und die Mentawaier, die ich bisher zu Gesicht bekommen hatte, waren nur noch etwas ärmlicher und noch etwas zerlumpter als die übrigen Einwohner. Sie wohnten in eigenen Dörfern und waren abhängig von den Händlern aus Sumatra; bei diesen konnten sie ihre Kokosnüsse gegen mehr oder weniger nützliche Zivilisationsprodukte eintauschen und wurden dabei schamlos übervorteilt. Die Kinder gingen in die Missionsschule auf der Kirchenempore; jeden Morgen konnte man sie dort im Chor das ABC deklamieren hören. Nur bei den alten Leuten verriet die Tätowierung, die durch die Risse im Hemd manchmal sichtbar wurde, dass es früher anders gewesen war.
Das sei noch gar nicht so lange her gewesen. Der oberste Regierungsbeamte in Muara Siberut erzählte voller Stolz, dass die Wendung zum Fortschritt erst durch einen Erlass in den ersten Jahren der Amtszeit Präsident Sukarnos eingetreten sei. Damals wurden die mentawaiische Religion, die Tätowierung, das Zuspitzen der Schneidezähne, die langen Haare und der Schmuck der Männer, das Wohnen in den großen Gruppenhäusern und alles andere, worin die traditionelle Kultur bestand, verboten. Es galt als primitiv und rückständig, unwürdig für eine moderne Nation, und die Leute sollten dazu erzogen werden, in übersichtlichen und reinlichen Dörfern mit Kirche oder Moschee und Schule zusammenzuziehen. ‚Barasi‘ wurden die Dörfer genannt; eine mentawaiische Verballhornung des indonesischen Wortes, aus dem der Name entstanden war: kebersihan, Sauberkeit. Nachdem die neuen Regeln verkündet worden waren, ließen die Polizisten den Mentawaiern ein paar Wochen Bedenkzeit. Danach zogen sie in die traditionellen Siedlungen, verbrannten alle rituellen Gegenstände und bestraften, wer sich nicht anpassen wollte und noch keine moderne Religion gewählt hatte. Deswegen auch die westlichen Kleider der Leute – draußen vor dem Fenster saßen sie noch immer und rauchten genussvoll den Tabak, den sie eingehandelt hatten. Der Lendenschurz der Männer und die unbedeckten Brüste der Frauen galten als unsittlich …
Aber der Hafenort war nicht die ganze Insel. Auch Helmut, der Missionar, hatte gesagt, er habe von Gruppen im Inneren gehört, die sich bis heute allen Kontakten entzogen hätten. Ich beschloss, ihn am Abend noch einmal darauf anzusprechen.
Nach dem Abendessen gab es immer riesige Scheiben selbstgezogene Ananas. Sie schmeckten so aromatisch, dass Helmut mit Stolz behauptete, dies allein würde die Reise nach Mentawai lohnen. Helmut und seine Frau Helga – er Deutscher, sie aus Österreich – waren beide um die dreißig; sie waren mit ihren vier kleinen Kindern selbst erst seit einigen Monaten auf Siberut und hatten in der kurzen Zeit bereits eine tiefe Liebe zu der Insel und ihren Bewohnern gefasst.
»Am besten gehen Sie zu den Sakuddei im Westen«, antwortete er auf meine Frage, »dort ist noch niemand gewesen, und die Polizei hat Angst, hinzugehen. Früher haben sie es einmal versucht, aber dann haben die Sakuddei mit Pfeilen auf sie geschossen, und seither ist ihnen der Mut vergangen. Sie gehören zu den wildesten Leuten auf ganz Siberut. Sie tragen noch langes Haar, das den ganzen Rücken bedeckt, und sind scheu wie die wilden Tiere. Wenn Sie Lust haben, können wir zusammen gehen. Ich wäre schon lange gern einmal hingefahren.«
»Gefahren? Ich dachte, an der Westküste könne man nirgends landen.« Die Westküste von Siberut war bekannt für ihre Unzugänglichkeit. Im Gegensatz zu den Sandstränden im Osten fällt das Land steil ins Meer ab; dort, am äußersten Rand von Asien, bricht sich eine gewaltige Dünung, die über den indischen Ozean hinweg durch kein Land und keine Insel gehemmt von Afrika herüberkommt.
»Doch, es gibt einen Platz bei Sagulubbe. Dort ist ein Riff und hält die Wellen ab. Ich habe es in der ruhigen Zeit schon ein paar Mal versucht. Der Pastor natürlich nicht, der ist zu feige und geht lieber drei Tage quer über die Insel.«
»Pastor« war eine Globalbezeichnung für die drei Priester aus Parma, die neben der protestantischen Station eine katholische und, wie Helmut versicherte, unsaubere Konkurrenz betrieben. Ich war an einem der ersten Abende bei ihnen ausgiebig mit Messwein bewirtet worden und es hatte mit italienischen Arien geendet, aber Helmut war ihnen nicht wohlgesinnt, und ich fühlte mich keineswegs berufen, Partei zu ergreifen. »Kann man in den Fluss hineinfahren?«, frage ich stattdessen.
»Nein, sonst machen wir besser gleich unser Testament. An der Mündung gibt es acht Reihen von Brechern hintereinander, da kommt keiner durch. Wir lassen den Kahn am Ufer ein paar hundert Meter weiter nördlich und nehmen uns dann weiter landeinwärts einen Einbaum. Oben am Gulubbe-Fluss, an einem Seitenarm, sollen die Sakuddei wohnen. Vielleicht müssen wir auch ein Stück zu Fuß gehen, aber das sollten Sie sowieso einmal kennenlernen.« […]
Sakuddei: Die meisten Stammesbezeichnungen auf Siberut bestehen aus einem Ortsnamen und der Personal-Vorsilbe sa. Sagulubbe: die Leute vom Gulubbe-Fluss, Sakuddei: die vom Kuddei-Fluss, etc.
Seite 2 / oben weiterlesen ⇑
[…] Im weiten Bogen umfuhren wir das Kap mit seinen vorgelagerten Riffen und drehten dann der Küste entlang nach Südosten. Überall zog sich ein weißer Saum aus Korallensand, dahinter stand wie eine grüne Front der Urwald. Es gab niedrige Hügelrücken, aber keine Berge.
»Man könnte meinen, hier sei noch niemals ein Mensch hingekommen«, sagte ich.
»Auf den Hügeln zwischen den Flussläufen wohnt tatsächlich niemand«, antwortete Helmut. »Dort wird nur gejagt und Rotang gesammelt. Rotang nennt man bestimmte Lianen; die Holländer haben früher hohe Preise dafür bezahlt. Aber heute ist ja alles aus Plastik, und die Eingeborenen bekommen nur einen Bruchteil von damals. Sie können natürlich nicht begreifen warum, und das macht oft böses Blut.«
»Gibt es auch Flüsse, an denen niemand wohnt?«
»Ich glaube an der Westküste. Es werden übrigens immer wieder neue Regionen besiedelt. Platz gibt es genug; wegen der vielen Tropenkrankheiten will die Bevölkerung hier leider immer noch kaum zunehmen. Das ungesunde Klima ist wahrscheinlich auch der Grund, weswegen die Leute aus Sumatra die Mentawaier durch die Jahrhunderte hin mehr oder weniger in Ruhe gelassen haben. Aber wenn eine Gruppe doch einmal zu groß wird, dann spaltet sie sich auf. Ein Teil der Angehörigen zieht weg und baut sich eine neue Uma – so heißt das große Gemeinschaftshaus und gleichzeitig auch die Gruppe, die es bewohnt. Da es keine anständigen Pfade gibt, sind die Flüsse die einzigen Verbindungen, deswegen liegen alle Umas in Abständen voneinander am Wasser. Richtige Dörfer gibt es nicht, gab es wenigstens früher nicht; jetzt werden die Mentawaier ja von der Regierung gezwungen, zusammenzuziehen. Man hat sie dann besser unter Kontrolle.«
»Haben die Umas einen Häuptling?«
»Das weiß ich selbst noch nicht so genau. Es gibt die Kerei, eine Art Medizinmann oder Schamane, aber das sind elende Pfuscher, die nur daran denken, möglichst viel Opferfleisch zu ergattern. Und dann hat jede Uma einen Rimata, möglicherweise ist das so etwas wie ein Häuptling. Viel zu sagen hat er aber sicher nicht. Wo es Regierungskontrolle gibt, ist das heute alles verschwunden. Aber vielleicht werden Sie bei den Sakuddei mehr herausfinden.«
»Vielleicht finde ich auch heraus, dass die Kerei gar keine solchen elenden Pfuscher sind«, entfuhr es mir gegen meine Absicht. Denn ich hatte mir vorgenommen, nicht über die Mission zu diskutieren, jedenfalls jetzt noch nicht. Aber zu meiner Überraschung stimmte Helmut zu. »Es kann sein, dass Sie recht haben.« Er blickte über den Bug. »Schauen Sie dort vorn. Ich glaube, wir geraten in einen Thunfischschwarm.«
Plötzlich war zum Surren des Motors noch ein anderes Geräusch gekommen. Vor uns kreiste eine flatternde und kreischende Schar von Möwen, die immer wieder aufs Wasser niederstießen. Und wie wir näher kamen, sahen wir in der eben aufgegangenen Sonne die silbrigen Leiber der springenden Fische aufblitzen.
»Schnell!« – Helmut ergriff eine Holzrolle, die auf dem Boden lag, und gab mir eine zweite. »Werfen Sie den Haken ins Wasser, und lassen Sie den Nylon abspulen.« Am Haken war nichts als ein paar weiße Federchen. Er flog über Bord, und der Faden tanzte hinter dem Boot drein. Kaum waren wir im Schwarm drin, gab es einen Ruck, und plötzlich waren beide Fäden gespannt. Wir holten ein, so schnell wir konnten, und warfen die prallen, spindelförmigen, etwa einen halben Meter langen Fische ins Boot. Ihre Körper schienen nur aus Muskeln zu bestehen und schlugen wild am Boden hin und her. Noch einmal warfen wir die Haken aus, und wieder waren die Fäden fast augenblicklich gespannt. Helmut holte einen weiteren Thunfisch ein. Ich war zu langsam; gerade unterhalb der Bordkante ließ der Zug plötzlich nach und der spitze, böse Kopf eines Hais tauchte einen Moment aus den Wellen. Ich zog nur noch die Kiemen an Bord.
»Dort unten tobt jetzt ein wilder Kampf, sagte Helmut und lachte über mein erschrockenes Gesicht. „In der Nähe der Fischschwärme wimmelt es immer von Haien.« Die drei Thunfische am Boden wurden langsam still und wechselten allmählich die Farbe, von Metallblau in ein dumpfes Schieferblau mit deutlich hervortretenden Längsstreifen. »Auf diese Weise habe ich immer ein Mitbringsel, wenn ich auf Tournee bin. Wenn wir mehr Zeit hätten, könnten wir noch Dutzende von Fischen fangen. Aber wir wollen nicht zu spät in Sagulubbe ankommen. Schauen Sie übrigens die Kokospalmen am Strand. Die wachsen auf Mentawai nie wild; daran können Sie sehen, dass hier doch ab und zu Menschen hinkommen.«
Seite 3 / oben weiterlesen ⇑
Wir waren unversehens in eine Traumlandschaft geraten, ein Gemisch von winzigen, palmenbewachsenen Inseln, blauen Buchten und blendend weißen Korallenstränden, und jetzt im Sonnenlicht schien auch der Urwald nicht mehr so uniform; man sah riesige Stämme auf den Hügelkämmen, an denen sich eine ganze Welt von Lianen und Epiphyten festklammerte. So ging es etwa drei Stunden, dann erreichten wir eine enge Meerstraße zwischen der Südostspitze von Siberut und einer großen vorgelagerten Insel. Es wurde deutlich, dass wir langsam aus dem Schutz der Ostküste in den offenen Indischen Ozean hinauskamen. In der Straße überkreuzten sich verschiedene Strömungen, plötzlich gab es Strudel und unregelmäßige Wellen mit kleinen Schaumkronen, abwechselnd tauchten die Schwimmer tief ins Wasser. Die Auslegerstangen zerrten am Bootskörper und ließen ihn erzittern wie ein nervöses Pferd. Aber bald lag die Seestraße hinter dem Rücken und eine unendliche Hügelwelt breitete sich vor uns aus, dunkelblau gegen das Hellblau des Himmels. Gleichmäßig und ohne Eile kamen weit auseinandergezogene Wellenberge über den Ozean und hoben und senkten das Boot wie einen langsam arbeitenden Kolben.
»So ruhig habe ich das Meer hier selten gesehen«, bemerkte Helmut. »Wir können ohne Weiteres einen Mittagshalt auf der Insel Niau einschieben. Die Leute dort kennen mich, ich lege immer bei ihnen an, um Papaya zu essen. Sie stammen aus Taileleu an der Südküste und kommen hierher, um Kopra zu machen.«
Niau war die südlichste der Siberut vorgelagerten Inseln und erschien mit seinen Palmwedeln in der Ferne vor uns wie ein Blumenstrauß in der Wüste. Die Zufahrt lag auf der geschützten Ostseite; ich stellte mich in den Bug und lotste das Schiff zwischen den Korallenblöcken hindurch, die stellenweise bis knapp unter die Oberfläche reichten. Das Meer veränderte seine Farbe von Blau zu einem ganz hellen Grün; wir stellten den Motor ab und paddelten über die weißen Sandstreifen an den Strand.
Dort warteten schon die ersten Einheimischen und plötzlich war es, als seien alle Zweifel der letzten Wochen gegenstandslos geworden. Es waren halbnackte, schlanke, tätowierte Gestalten, mit Lendenschurz, Halsketten und Armringen, mit Hibiskusblüten hinter den Ohren und zugespitzten Zähnen in den lachenden Mündern, und mit Lachen riefen wir uns gegenseitig den schönen mentawaiischen Gruß zu: »Anai leu ita« – »wir sind zusammen«, und »O-o, anai leu ita« – »ja, wir sind zusammen.« Sie zeigten uns ihre Hütten mit dem einfachen Hausrat: ein paar sorgfältig gearbeitete Netzschwimmer, kleine Truhen, Pfannen und Buschmesser, Tragköfferchen aus Baumrinde und freilich auch die unausbleiblichen Blechbüchsen, denn auch Taileleu war ein Regierungsdorf. Dann schlugen sie einigen der herumliegenden Kokosnüsse die Spitze ab und gaben uns zu trinken. Die Flüssigkeit hatte einen ganz leicht süßlichen Geschmack und war kühl und erfrischend. Dazu gab es rotfleischige, melonenähnliche Papaya, und dann waren wir an der Reihe mit Tabak, dem unvermeidlichen Gegengeschenk. Nun kamen auch die Frauen hinzu, nur mit einem Tuch um die Hüften bekleidet, die langen Haare aufgesteckt, auch sie tätowiert an Brüsten, Armen und Beinen. Der unbekannte Weiße wurde eifrig und mit viel Gelächter diskutiert, aber ich verstand kaum ein Wort von dem lokalen Dialekt. Es wurde auch Zeit zum Aufbruch, denn Helmut stellte beunruhigt fest, dass der Himmel sich zuzuziehen begann. »Wir gehen jetzt« – »Ja, geht nur«; die etwas sachliche mentawaiische Abschiedsformel. Bald waren wir wieder in der blauen Dünung.
Die etwa hundert Kilometer lange Westküste von Siberut bot hier einen völlig anderen Anblick als die Ostküste. Steile Abstürze fielen senkrecht ins Meer, teilweise verhüllt von Gischtschleiern der Brandung, deren Tosen selbst nun bei dem ruhigen Seegang weithin hörbar war. Hier begann die gefährlichste Strecke, denn bis nach Sagulubbe in etwa drei Stunden Entfernung war an Landen nicht mehr zu denken.
»Hoffentlich kommen wir hin, bevor das Unwetter losbricht« – Helmut blickte besorgt auf die Hügelkette, die hier etwas höher anstieg und unheimlich schnell von dunklen Wolken verhängt wurde. Die See vor uns hatte mit einem Schlag eine schwärzliche Tönung angenommen und draußen in der Tiefe zeigten sich die ersten Schaumkronen. »Solange es keine richtigen Brecher sind, kann uns nicht viel passieren, aber wenn sich die Wellen mitten auf dem Meer zu überschlagen beginnen, dann wird es ungemütlich. Dann kann der Kahn volllaufen und wegsacken, ehe Sie bis drei zählen.«
Ich schaute wieder nach den Schaumkronen, aber plötzlich waren wir mitten in einem sturzbachartigen Regen und man sah kaum mehr die Schwimmer der Ausleger. Im Nu waren wir völlig durchnässt. Wir hatten keinen Kompass bei uns, aber noch konnte man deutlich die großen Wogen der Dünung von den kleinen Wellen unterscheiden, die sich inzwischen überall erhoben hatten; das ermöglichte eine gewisse Orientierung. Ein Blitz erhellte für einen Augenblick die ganze Umgebung. Kaum zwei Sekunden danach folgte ein Donnerschlag, dass wir unwillkürlich die Köpfe einzogen. Die Lage war recht ungemütlich, da wir hier draußen natürlich jede Entladung anlockten.
Aber damit war offenbar die Kraft des Unwetters erschöpft. So schnell, wie es gekommen war, verzog es sich wieder, und vor uns kam eine Landzunge in Sicht: das Kap von Sagulubbe. Vor dem Kap begann das Riff, das den südlichen Teil der Bucht von Sagulubbe abschnitt und sie so – außer bei Nordwestwind – vor den Wellen schützte. Seinem Ende vorgelagert lag ein zweites Riff, und zwischen diesem Tor, an dem sich mitten im Meer meterhoch die Brandung aufbäumte, lag die Einfahrt.
Kleine Wellen folgten uns an den Strand, der verlassen in der Nachmittagssonne da lag. Wir stiegen an Land und begannen auszuladen. Unter den Kokospalmen im Hintergrund erschienen ein paar Männer und kamen auf uns zu. Voraus ging ein junger Malaie im Sarong; Helmut schien ihn zu kennen und begrüßte ihn. Es war ein Koprahändler aus Muara Siberut, der hier in äußerster Abgeschiedenheit einen ärmlichen Tauschladen unterhielt. Er hieß Amir und hatte große schwarze, melancholische Augen. Hinter ihm kamen ein paar Einwohner von Sagulubbe, und die Begrüßungsszene von Niau wiederholte sich. Aufgeregt wiesen sie auf die Unwetterwolken am Horizont und schüttelten bedauernd die Köpfe. Dann halfen sie uns, das Boot ans Ufer zu ziehen; wir vertäuten es an einem Baum und trugen die Sachen ins Haus des Händlers. Während Amir Kaffee kochte, zogen wir uns trockene Sachen an und genossen dann begierig das bittere, heiße Getränk. […]
Seite 4 / oben weiterlesen ⇑
[…] Wir waren zu viert im Boot – der dritte Sagulubbe war schon am Tag zuvor zu dem Mann vorausgefahren, der mit einem Mädchen der Sakuddei verheiratet war. Es ging zunächst durch den engen, düsteren Kanal, eingeschlossen zwischen den Stelzwurzeln eines totenstillen Dickichts aus Mangroven. Dann wurde es hell, die Landschaft öffnete sich, und wir kamen hinaus in den breit und ruhig dahinfließenden Gulubbe. Wir begannen angestrengt gegen die Strömung zu paddeln.
Es war noch früh am Morgen, aber die Sonne brannte schon heiß vom Himmel. Die Ufer hier am Unterlauf waren flach und am Randbewachsen mit gelblich-grünem Schilf. Dahinter, ebenfalls gelblichgrün, erhoben sich die riesigen Blätter von Bananenstauden, darüber balancierten die zerzausten Schöpfe von Kokospalmen auf dünnen, schwarzen Stammstielen. Der Fluss dazwischen war lehmfarben, hoch angeschwollen noch vom gestrigen Regen, der Himmel fast weiß von blendendem Licht. Manchmal sah man am Ufer kleine Feldhütten, auf Pfählen, wie alle traditionellen Häuser in Mentawai, und inmitten von Hibiskusbüschen; die roten Blüten gaben den einzigen Kontrast in dem Einerlei von Gelb und Grün.
Von der Vorgalerie der Hütten klangen immer wieder aufgeregte Frauenstimmen: »Si Tuan, si Tuan!« – »Der weiße Herr, der weiße Herr!« und »ake ubemai!« – »Gib Tabak für uns!«, worauf die beiden Sagulubbe jedes Mal mit scheinheiligem Bedauern zurückriefen: »Ta anai, ta anai« – »es gibt keinen, es gibt keinen«. Sie wollten ihn lieber für sich selbst bewahren.
Der Fluss machte unzählige Schleifen; häufig kamen wir nach einer Viertelstunde Fahrt beinahe wieder an den Ausgangspunkt zurück. Immer wieder gab es tote Wasserarme, die zeigten, dass der Lauf sich dauernd änderte. Die Sonne stieg höher und höher, langsam fingen auf dem niederen Sitzbrettchen alle Knochen an zu schmerzen, die Blasen an den Händen platzten, und die Haut begann überall, wo sie nicht von Stoff bedeckt war, mit der Farbe des Hibiskus zu konkurrieren. Es ging an hellen Sandbänken vorbei, über flache Stromschnellen, wo der Grund mit rundem Geröll bedeckt war und sich die Wellen kräuselten, und ab und zu erschienen auch schon die ersten Steilhänge mit einem urwaldähnlichen Filz von Schlingpflanzen und riesigen Farnen. Dazwischen lagen Stellen mit tiefem Wasser, wo große Stammstücke trieben, die sorgfältig umfahren werden mussten. Einmal schlug uns ein mörderischer Gestank entgegen: Im Wasser schwamm der aufgedunsene Leib einer Riesenpython, ohne den Kopf, aber schenkeldick und sicher fünf Meter lang.
Endlich erreichten wir die Feldhütte von einem der Sagulubbe-Begleiter und legten an.
»Ganz schön anstrengend, nicht wahr?«, lachte Helmut und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. »Lassen Sie sich lieber einen Hut geben, sonst bekommen Sie noch einen Sonnenstich.«
Der Sagulubbe ging uns voraus zu seiner Hütte und wir setzten uns alle in den Schatten unter das Vordach. Es gab pukpuk, winzige, pralle, zuckersüße Bananen, dazu wieder kühles Kokoswasser, in das der Saft einer grapefruitähnlichen Frucht hinein geträufelt wurde. Die Mischung schmeckte wie Limonade, und ich musste mich zusammennehmen, nicht zu viel zu trinken. Ich bekam einen Hut aus den Blattfiedern einer Kokospalme; die unvermeidliche Zigarre aus Tabak, der in Streifen von getrockneten jungen Bananenblättern gerollt war, wurde angezündet, und wieder stiegen wir in den Einbaum.
Je weiter wir aufwärts kamen, desto wilder wurde die Gegend. Die Hügel kamen stellenweise dicht heran, und der Fluss wurde zusehends schmaler. Zwischen den Steilhängen war er manchmal fast überdeckt von den Kronen riesiger Bäume an der Uferkante. In den Windungen, wo die Böschung angefressen war, standen die Stämme oft schräg, und manche lagen quer in der Strömung: Sie waren bei einer Flut unterspült worden und hatten das Gleichgewicht verloren. Immer wieder öffneten sich die Mündungen kleiner Nebenflüsschen, deren Wasser von Regenfällen irgendwo im Inland trüb gefärbt waren. Auch jetzt gab es noch offene Strecken mit Feldhütten, aber stets seltener ertönte das: »Gib Tabak für uns«, und nach einiger Zeit bekam ich das Gefühl, dass alle Häuser verlassen waren.
»Die Leute haben Angst, wir seien von der Regierung; alles scheint sich verzogen zu haben« Helmut machte ein bedenkliches Gesicht. »Wenn nur unser Vorbote keinen Unsinn gemacht hat.«
»Wo sind wir eigentlich?«
»Die Sagulubbe sagen, hier sei das Gebiet der Siriottoi.«
»Hoffentlich werden wir nicht verhext«, lachte ich. Viel später erfuhr ich, dass Matsebu am Tag zuvor tatsächlich gezaubert hatte. Auf die Nachricht von unserem Kommen hin hatte er eine magische Handlung durchgeführt mit dem Ziel, dass keine anderen als gute Worte unsere Münder verlassen und keine anderen als erwünschte Taten von unseren Händen geleistet werden könnten. So waren wir bereits im Bannkreis des alten Mentawai, ehe wir es wussten.
Etwa eine Stunde weiter stromaufwärts erschien in einer Flussbiegung die Mündung eines kleineren Flusses: des Kuddei. Am Anfang gab es Sandbänke, über die wir schieben mussten, dann kam tieferes Wasser. Es war klarer als im Hauptstrom, die Baumkronen spiegelten sich darin, und in den sonnigen Strecken sah man manchmal die Schatten großer Fische über den Grund hinhuschen. Das Flussbett war nur etwa drei Meter breit; die steuernden Paddelschläge des Sagulubbe am Heck mussten im Bug durch Gegenstöße mit den Staken unterstützt werden. Die Hügel ließen lediglich einen schmalen Uferstreifen frei; dort waren Bananenpflanzungen, aber kein menschlicher Laut war zu hören.
Mit einem Mal wichen die Hügel zur Seite, und ein weites Tal breitete sich vor uns aus. Auch hier wieder Bananen mit Kokospalmen, dazwischen einzeln stehende, mir unbekannte Obstbäume, in großem Bogen dahinter die urwaldbewachsenen Anhöhen. Die Ufer wurden sandig, die Böschung flacher; dort lagen Einbäume, und daneben stand wie ein Banner eine wohl zehn Meter hoch aufragende, mit gelb gefärbten Pflanzenfasern geschmückte Bambusstange.
Seite 5 / oben weiterlesen ⇑
[…] »Die Uma der Sakuddei«, erklärten die Sagulubbe überflüssigerweise und ließen uns vorausgehen.
Wir stiegen über einen eingekerbten Baumstamm zu einem Vorplatz hinauf und erreichten von dort die überdachte Vorgalerie, eine Art Veranda. Überall lagen Gerätschaften herum, mit Blättern verzierte Tierschädel hingen vom Gebälk herunter, aber der Platz schien völlig verlassen. »Anai leu ita, anai leu ita!«, riefen wir.
In der dunklen Öffnung zum Innenraum erschien allein ein älterer Mann und kam auf uns zu. Er war sehr bleich.
»Anai leu ita«, sagten wir wieder, und ergriffen seine Hände, um unsere Nervosität zu verbergen.
Er sah uns prüfend an. »Amoiat kap« – »Seid ihr gekommen«, sagte er schließlich. »Maeru.«
Als sei dieses maeru ein Zeichen gewesen, klang es plötzlich von überall her durcheinander: »Anai leu ita, anai leu ita«, und die Vorgalerie begann sich mit Gestalten zu bevölkern. Unsere Hände wurden gedrückt, Arme legten sich um unsere Hüften und begannen uns zu streicheln, wie in großer Erleichterung.
Der Anblick war überwältigend. Oft hatte ich mir diesen Moment der ersten Begegnung und wie ich mich dabei verhalten sollte auszudenken versucht, aber nun ergab sich alles wie von selbst. Was hier auf mich zukam, waren stolze, selbstsicher auftretende Menschen. Sietrugen alle langes, schwarzes Haar, das sie hinten zu einem Knoten hochgebunden hatten. Sie waren am ganzen Körper tätowiert; die Männer waren lediglich mit einem Lendenschurz und die Frauen mit einem Wickelrock bekleidet. Sie schienen einen besonderen Schmuck angezogen zu haben. Um die Oberarme trugen sie geflochtene Ringe und um die Handgelenke Messingspangen, sie hatten Halsketten, die mit Federn, Tierhaaren und Perlen verziert waren, an den Ohren baumelten grüne, schillernde Käferflügel, den Kopf bekrönte ein Reif aus bunten Glasperlen. Sie hatten eine Bemalung aus schwarzen Tupfen auf Nase, Wangen und Kinn, und überall, in den Haaren, hinter den Ohren, unter den Schmuckstücken und im rot oder gelb gefärbten Baumbast des Lendenschurzes waren bunte Blätter und Blüten eingesteckt. Und diesmal ging es nicht um eine vereinzelte Begegnung wie am Strand von Sagulubbe, diesmal waren wir die Ausnahme, hineinkatapultiert in eine andere Welt, deren Selbstverständlichkeit das Anliegen, sie näher kennenzulernen, ganz natürlich herausforderte.
Und dann sah ich auf einer Bank am Rand der Vorgalerie eine wie eine Mumie in ein weißes Tuch gehüllte Gestalt. Ich erschrak, dachte, es sei eine Leiche, aber die Leute machten deutlich, es sei ein Schwerkranker.
»Sie sagen, es ist der jüngste Sohn des Rimata – das ist der Mann, der uns zuerst entgegengekommen ist«, erklärte Helmut. »Es scheint, dass wir mitten in eine Heilungszeremonie geraten sind.«
Der Rimata hob das Tuch, das offenbar wegen uns hingelegt worden war, und forderte uns auf, näher zu kommen. Auf der Bank lag ein etwa fünfzehnjähriger Junge mit aufgelösten schwarzen Haaren um die weichen, blassen Gesichtszüge.
»Er war schon beinahe tot«, meinte der Rimata. »Seine Seele war schon weit fort.« Er erklärte, dass der Junge von einer Kokospalme gefallen und ohnmächtig liegengeblieben war. Nun wurde auch deutlich, warum einige der Männer so besonders reich geschmückt waren. Es war die Zeremonialtracht der Kerei, von der ich schon in alten Berichten über die Mentawai-Inseln gelesen hatte.
Offenbar sollte die von uns unterbrochene Zeremonie jetzt fortgesetzt werden, denn einer der Kerei holte aus dem Innenraum eine kleine Messingglocke, begann gleichmäßig damit zu läuten und ging über die Vorgalerie hinaus zum Steg. Es klang verlockend und eindringlich, als sollte die geflohene Seele des Kranken wieder zurückgerufen werden. Langsam bewegte sich der Kerei weiter, stieg hinab auf den Boden, immer läutend und lockend, in seinem Blätterschmuck selbst wie ein Teil der Natur, in deren Gang er doch eingreifen wollte. Noch lange hörte man sein Läuten aus dem Gesträuch; leise verklang es in der Ferne.
Zwei andere Medizinmänner waren inzwischen ebenfalls verschwunden; nun kamen sie zurück mit einem Haufen anscheinend heilkräftiger Pflanzen, die einen starken, würzigen Geruch verströmten. Sie wurden am Boden ausgelegt und unter beschwörenden Sätzen zu Sträußen zusammengebunden. Dann wurde der Kranke in die Mitte geholt, und die Kerei – der dritte war inzwischen wieder zurückgekommen – und der Rimata begannen mit der eigentlichen Zeremonie.
Was im Einzelnen geschah, konnte ich damals lediglich erraten. Von den Liedern und Beschwörungstexten gelang mir fast nichts zu übersetzen. Aber alles war von anschaulichen Gesten und Bewegungen begleitet, die eine Vorstellung vom Sinn des Geschehens vermitteln konnten. Die Kerei inszenierten ein enormes Spektakel. Sie fächelten mit den Blättersträußen und anschließend mit einem großen roten Tuch die Krankheit fort, sie wuschen den Jungen mit einem Aufguss von zerriebenen Pflanzen, sie massierten ihn, als ob sie alle bösen Kräfte aus ihm herausreiben wollten und scheuchten sie mit weitausholenden Gebärden und drohenden Rufen zurück in den Urwald. Ein Huhn wurde beschworen und geschlachtet, und von dem Fleisch wurden verschiedene Opfer gebracht. Alles geschah unter melodischen, langgezogenen Gesängen, und immer wieder wurden kleine Messingglocken geläutet, von denen jeder Kerei eine zu besitzen schien.
Während der ganzen Zeremonie saßen alle Sakuddei dabei, Männer, Frauen und Kinder; sie schlossen den Kranken gewissermaßen ein und bekundeten damit das Gefühl der Geborgenheit, das ihm das Bewusstsein, im Mittelpunkt des Ganzen zu stehen, wohl geben musste. Alles geschah ohne die geringste Geheimnistuerei. Dauernd wandte sich der Rimata zu mir, um in seiner mir noch kaum verständlichen Sprache etwas zu erklären. Als ich fotografierte, schien er anzunehmen, dass ich dies zum besseren Sehen nötig hätte, denn er deutete anschließend immer wieder auf die Kamera und forderte mich auf, sie erneut an die Augen zu nehmen. Als die Zeremonie zu Ende war, setzten wir uns nebeneinander auf den Fußboden und ich bekam Unterricht in den Namen der Heilpflanzen. […] |
Heilungszeremonie der Kerei für einen erkrankten Jungen; Bildquelle: Reimar Schefold |
Seite 6/ oben weiterlesen ⇑
Ein paar Tage später kam Tengatiti. Tengatiti stammte aus Saibi, einem Regierungsdorf etwa eine Tagereise mit dem Einbaum weiter nördlich, und war mit seinem kranken Bruder nach Muara Siberut gepaddelt, um ihn dort behandeln zu lassen. Der sah schrecklich aus. Sein Körper war dick aufgedunsen und fühlte sich ganz kalt an. Die Leute in Saibi hatten sich schließlich keinen anderen Rat mehr gewusst, als den Jungen zur Missionsstation zu schicken. Nun rätselten Helmut und der einheimische Krankenpfleger gemeinsam an der Ursache der Krankheit herum.
Ich begegnete Tengatiti unten an der Anlegestelle, wo er mit anderen jungen Männern seines Alters – die Mentawaier zählen keine Jahre, aber ich schätzte ihn auf etwa zwanzig – im Gras herumlungerte. Ich war auf der Suche nach jemandem aus Saibi, denn die Leute dort sprechen einen ähnlichen Dialekt wie die Sakuddei.
»Potipara«, riefen die Jungen, »du sollst Lehrer werden!« Der Angerufene erhob sich und kam auf mich zu.
»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte er verlegen. Er hatte ein gerades, offenes, einnehmendes Gesicht und war kräftig gebaut wie die meisten Mentawaier seines Alters. Er erzählte, dass er zwei Jahre auf der Regierungsschule gewesen sei und Lesen und Schreiben und auch ein bisschen Indonesisch gelernt habe. Vor ein paar Jahren sei seine Familie getauft worden, damals habe er den Namen Potipara erhalten.
Potiphar! Ich hatte schon einen Jungen namens Judas kennengelernt und ein blühendes Mädchen namens Esau. Später merkte ich, dass für die Missionslehrer alle Namen aus der Bibel als heilig galten, und natürlich auch die der deutschen Missionare und ihrer Besucher. So konnte man im Urwald einem Gerhard oder einem Hermann begegnen, jeglichen Alters oder Geschlechts.
Ich fragte Potiphar, wie er früher geheißen habe. »Tengatiti«, antworte er. ‚Tenga‘ bedeutete halb, ‚titi‘ tätowiert.
»Heißt du so, weil du noch nicht tätowiert bist?«
»Tätowiert bin ich noch nicht«, gab Tengatiti zu, »das haben sie uns verboten. Aber mein Name kommt nicht daher. Es ist ein Name von den Siribetuk. So heißt meine Uma. – Aber ich habe Zähne«, fügte er unvermittelt hinzu.
»Ich auch.«
»Nein – so.« Tengatiti entblößte zwei Reihen spitz zugemeißelter Schneidezähne.
»Damals waren wir noch nicht getauft.«
»Warum macht ihr eure Zähne spitz?«
»Ich weiß es nicht. Es ist schön. Es ist würdig. Ein Mann, der lange Haare hat, und tätowiert ist, und einen Lendenschurz hat, und spitze Zähne, das ist würdig. Sonst sieht er nur aus wie ein sasareu (‚von weit her Gekommener‘, die Bezeichnung für die Minangkabau-Malaien von Sumatra).«
»Tut es weh, das mit den Zähnen?«
»Sehr besonders! Tränen kommen heraus!«, Tengatiti machte ein ernstes Gesicht. »Wir legen uns auf den Rücken, und dann beißen wir auf ein Stück Holz: so« – er steckte einen Finger quer durch den Mund – »und dann nimmt ein Mann einen papae (Meißel aus alter Buschmesserklinge) und meißelt unsere Zähne, bis sie spitz sind. Es blutet, und wir können lange nicht essen. Nur grüne Bananen, das kühlt ab – ein bisschen.«
»Wie alt seid ihr, wenn das geschieht?«
»Das wissen wir nicht. Wir kennen das nicht, was die Malaien ‚Jahr‘ nennen. Wir kennen nur: Es ist ein Säugling – ganz klein» – Tengatiti bückte sich und hielt die Hand dicht über den Boden – »und dann kann es kriechen, und dann kann es gehen, und dann ist es einer, der schon einen Lendenschurz hat, und dann ist es einer, der mit dem Pfeilbogen schießen kann, und dann bekommt er seine Zähne und ist ein Jüngling, und dann bekommt er seine Tätowierung, und dann ist er ein Mann und ist groß« – Tengatiti erhob sich auf die Zehenspitzen und streckte seine Hand hoch über den Kopf – »und dann ist er alt und geht gebückt.«
»Und dann ist es aus mit pakit!«, rief einer der anderen Jungen, und alle lachten schallend über mein Nichtverstehen, denn hier war wieder ein Wort, das in der Liste des Missionars gefehlt hatte. Das ganze Gespräch war sehr stockend verlaufen, verdeutlicht mit indonesischen Brocken und mit Gestikulieren, aber dieses eine Wort weigerten sie sich entschieden zu übersetzen.
Ich fragte Tengatiti, ob er regelmäßig zu mir kommen wolle und noch mehr erzählen, damit ich die Sprache lernen könne. Er versprach es, und ich ging zurück auf den Hügel.
Tengatiti kam mich nun jeden Tag besuchen. Er war noch ganz in der alten Tradition aufgewachsen, und unsere Sprachstudien begannen immer damit, dass er mir eine Geschichte erzählte. Ich nahm alles auf Tonband auf. Zu Beginn verstand ich kaum ein Wort, aber wir wiederholten denselben Text immer wieder, bis alles deutlich geworden war und ich jede Formulierung auswendig kannte. Tengatiti konnte wunderbar erzählen. Das meiste habe er von seiner Mutter gehört, die jeden Abend mit neuen Geschichten angekommen sei. Allmählich bekam ich so eine Einführung in den enormen Vorstellungsreichtum der mentawaiischen Überlieferungen, mit ihren Ideen über die Entstehung der Dinge, die ihre Welt ausmachten, über die Herkunft der heutigen Bewohner und über den verborgenen Bereich des Urwalds, in dem vor allem Geschichten von den silakkokoina, einer Art dummgrober Trolle, eine stete Quelle der Belustigung waren. |
Tengatiti (rechts) im Lendenschurz; Bildquelle: Reimar Schefold |
Seite 7 / oben weiterlesen ⇑
Die Grammatik der Sprache, in der die Geschichten erzählt wurden, war nicht besonders kompliziert und in den Grundzügen überdies verwandt mit dem Indonesischen. Desto schwieriger waren die Wörter. Immer wieder fiel mir auf, wie konkret die mentawaiische Sprache war, dort, wo ich an Überbegriffe gewöhnt war. Jede Nuance hatte ihre eigene Bezeichnung. Es gab Wörter für Tragen an einer über die Schulter gehängten Schlinge, Tragen in der Hand, Tragen auf den Hüften, Tragen auf den Schultern, Tragen auf dem Rücken, Tragen durch zwei Personen an einer Stange, aber keinen Ausdruck für Tragen allgemein. So wollten die neuen Wortstämme kein Ende nehmen.
Für viele Ausdrücke wusste Tengatiti keine indonesische Übersetzung, und vor allem abstrakte Begriffe brachten uns manchmal fast zur Verzweiflung. Wenn dann endlich eine Übersetzung gefunden war, versuchten wir sie zu überprüfen, indem ich das Wort in neue Texte einbaute, dann musste Tengatiti beurteilen, ob sie einen Sinn ergaben. Aber dauernd redeten wir aneinander vorbei.
»Wir sind müde, gehen wir ka ulau«, schlug Tengatiti dann vor, und wir zogen nach draußen, ‚ka ulau‘, ‚ins Freie‘, um uns auszuruhen. Aber einmal kam Tengatiti abends, und nach einiger Zeit schlug ich ermüdet vor, wiederum ka ulau zu gehen. Tengatiti war überrascht: »Jetzt gibt es doch kein ulau?« Wir hatten das Wort zufällig immer tagsüber angewendet; jetzt erst stellte es sich heraus, dass es eigentlich »hell« bedeutete.
In seinen Geschichten kam auch immer wieder vor, dass ein Einbaum kenterte. »Malukke – und alles fiel ins Wasse«, erzählte Tengatiti, und ich war überzeugt, das Wort für ‚kentern‘ kennengelernt zu haben. In einer anderen Geschichte aber war von einer verunglückten Schildkröte die Rede, die zum ‚kentern‘ gebracht wurde.
»Dann hat man sie also auf den Rücken gelegt?«, präzisierte ich.
»Nein – ich habe doch gesagt, dass sie schon auf dem Rücken lag. ‚Malukke‘ – das heißt, auf ihre Beine hat man sie gesetzt«, erwiderte Tengatiti nun etwas verwirrt.
Malukke hieß also nicht kentern. Aber was bedeutete es dann? Tengatiti legte sich rücklings auf den Boden.
»Jetzt siehst du doch«, sagte er und drehte sich auf den Bauch: »malukke!«
»Ich sehe gar nichts«, antwortete ich, ärgerlich über meine eigene Begriffsstutzigkeit. »Oder nennt ihr das etwa auch malukke?« Ich ergriff ein Buch, das auf dem Tisch lag, und drehte es um.
»Hier gibt es überhaupt kein malukke.« Nun wurde Tengatiti seinerseits ungeduldig.
»Moile moile«, sagte ich.
Tengatiti lachte. Moile moile war für mich zu einer Art mentawaiischem Motto geworden. Moile hieß eigentlich ‚langsam‘, aber aus den Erzählungen von Tengatiti hatte ich gelernt, dass es viel mehr bedeutete. Es hieß auch ,ruhig‘, es hieß auch ,mit dem richtigen Maß‘, es hieß ‚auskosten‘ – es war das Symbol für einen Lebensstil. Wenn sich die Helden einer Geschichte zum Essen versammelten, forderten sie einander auf: »Wir wollen es moile moile tun.« Wenn sich einer verabschiedete, riefen ihm die anderen nach: »Geh, aber mach moile moile!« Und sogar, wenn sie den Geistern ein Opfer brachten, brauchten sie das Wort: »Holt euch das Opfer – aber moile moile!«
»Schau jetzt«, sagte Tengatiti. Er machte mit seiner Hand eine Wölbung und streckte sie aus, mit der Innenfläche nach oben. »Das ist statt dem Einbaum, oder statt der Schildkröte auf dem Rücken, oder statt mir selbst. Und jetzt« – er drehte seine Hand um, sodass die Wölbung nach oben zeigte: »malukke!«
Endlich hatte ich es begriffen. Ich nahm ein Glas und drehte es um, die Öffnung nach unten. »Malukke!«, sagte ich.
»Nän!«, rief Tengatiti triumphierend. ,Nän‘ war der Ausdruck äußersten Einverständnisses. »,Malukke‘ bedeutet, ein Objekt mit konvexem Rücken liegt mit der Wölbung nach oben«, schrieb ich in mein Notizbuch.
Wir fanden wir hatten verdient, wieder ka ulau zu gehen.
Reimar Schefold: Ein bedrohtes Paradies. Meine Jahre bei den Sakuddei in Indonesien
Quintus Verlag, 376 Seiten, 45 Abbildungen, Hardcover mit Schutzumschlag, Fadenheftung, Format: 13,5 x 21,2 cm ISBN 978-3-945256-91-6 € 22,00 (D) / € 22,60 (A) |
|
Ein bedrohtes Paradies. Meine Jahre bei den Sakuddei in Indonesien
Anfang des Jahres 1967 reist der Anthropologe Reimar Schefold zu den Mentawai-Inseln westlich von Sumatra und hält sich dort zwei Jahre bei den Sakuddei auf, einer abgeschottet lebenden Ethnie auf der Insel Siberut. Er wird ohne Vorbehalte in der Gemeinschaft aufgenommen, ihm dabei Zugang zu ihrer Welt geboten. Die Sakuddei leben in einer egalitären Gesellschaft ohne Arbeitsteilung und Geldwirtschaft. Ahnen und Geister spielen eine wichtige Rolle in ihrer religiösen Welt. Einen großen Stellenwert hat dabei die Seele. Anhand seiner Aufzeichnungen und Tagebücher berichtet der Autor Jahrzehnte später von seiner Zeit bei den Sakuddei. In der Beschreibung seiner bisweilen unorthodoxen ethnologischen Feldforschung liest sich sein Bericht wie ein Roman, der seinen besonderen Reiz darin hat, dass sich der Autor 2009 erneut auf Siberut aufhielt und miterleben konnte, wie die Sakuddei dem fortwährenden Druck der indonesischen Regierung, sich »zivilisieren« zu lassen, trotzen und ihre traditionelle Lebensweise und Religionsausübung bewahren.
|
Noch ein paar Worte… zum »umständlichen« Weg des Werkes in den deutschen Buchhandel:
Niedergeschrieben wurde das Buch auf Deutsch, beginnend 2010, übersetzt und veröffentlicht dann aber erstmals auf Niederländisch (2012), später in Bahasa Indonesia (2014), publiziert auf Deutsch erst 2017.
Auf die Frage nach diesem ungewöhnlichen Weg in den deutschen Buchhandel, erklärt Schefold: »Ja, die Erscheinungsdaten stimmen, und ebenso, dass ich das Buch in meiner Muttersprache Deutsch geschrieben habe. Aber in den Niederlanden sind die Beziehungen zu Indonesien seit der Kolonialzeit immer noch stärker als anderswo, und als ein Verlag hier von dem Manuskript hörte, wollte er gleich eine Übersetzung anfertigen lassen. Dies wurde auch in Indonesien bekannt, und mit Unterstützung eines auf Indonesien spezialisierten Forschungsinstituts eine Übersetzung aus der niederländischen Version ins Indonesische angefertigt und bei einem der bekanntesten dortigen Verlage veröffentlicht. In Deutschland erwies es sich als bedeutend schwieriger, ein vergleichbares Interesse für ein indonesisches Thema zu finden – einer der Gründe für meine große Dankbarkeit an André Förster, dass er sich mit seinem Verlag für das Buch engagiert hat.« |
Prof. Dr. Reimar Schefold | geboren 1938, ist Professor em. für kulturelle Anthropologie und Soziologie von Indonesien an der Universität Leiden. Er betrieb Feldforschung auf den indonesischen Mentawai-Inseln und ist Autor einer Vielzahl von Büchern, u. a. über religiöse Vorstellungen und traditionelle Kultur im südostasiatischen Raum. Reimar Schefold lebt in Amsterdam.
Amanusia hat einen Vogel geschnitzt und bemalt, für die Einweihung des rusuk-Häuschens des Autors (rusuk= zur Uma gehöriges Familenhäuschen); Bildquelle: Reimar Schefold |
Hinweis: Buchvorstellung mit Reimar Schefold »Ein bedrohtes Paradies. Meine Jahre bei den Sakuddei in Indonesien«
24. November 2017, 20 Uhr Ort: SCHROPP Land & Karte GmbH, Hardenbergstr. 9a, 10623 Berlin
26. November 2017, 11 Uhr Ort: Rumah Budaya Indonesia, Haus der Indonesischen Kulturen, Theodor Francke Str. 11, 12099 Berlin |